Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
Spinnrad mit einem gütigen Großmutterlächeln um den zahnlosen Mund herum. »Geh’ nur gleich in die Küche und hole uns eine Schüssel von der Suppe, die im Kessel über dem Feuer kocht!«
Gerun ließ endlich Nadifs Hand los und knickste artig, wie sie es im Dienste des Königshauses gelernt hatte.
»Ja, Mütterchen!« Sie sah sich suchend um, entdeckte eine Türöffnung und ließ Nadif etwas ratlos bei den alten Frauen zurück.
»Ist es nicht gefährlich für euch, ganz allein hier zu leben? Wer versorgt euch mit Nahrung, wer pflegt euch, wenn ihr krank werdet?« Nadif schien noch immer zu erwarten, dass aus irgendeiner Nische ein Feind auf ihn zusprang.
»Wir waren noch nie krank!«, sagte die Frau mit dem Wollknäuel und schaute starr an Nadif vorbei. Er erkannte, dass sie trotz ihrer klaren Augen blind war.
»Wie heißt ihr, gute Frauen?«, versuchte es Nadif mit einer anderen Frage. Die Blinde hielt nachdenklich den Kopf schief.
»Wir hatten einmal Namen, fremder Krieger. Ich fürchte, ich habe sie vergessen. Seit langer Zeit nennt man mich nur die Norne der Zukunft. Am Spinnrad sitzt die Norne der Gegenwart und dreht uns die Fasern des Lebens zu einem Faden, damit ich ihn aufwickeln oder zerschneiden kann. Sie kann dich nicht hören, sie ist taub. Die Wolle des Schicksals steckt uns die Norne der Vergangenheit auf. Diese meiner Schwestern ist stumm, denn was auch immer sie uns sagen will, es erreicht nie der Menschen Ohr.«
Nadif hielt für einen Augenblick den Atem an. Er hatte die Geschichte von den Nornen, die die Lebensfäden aller Menschen spinnen, stets für Ammenmärchen gehalten. Jetzt saßen sie leibhaftig vor ihm. Er erinnerte sich, dass er als junger Bursche auch nie daran glauben wollte, dass es den schrecklichen Drachen wirklich gab. Bis er ihn dann in seinem ersten Jahr im Dienst der königlichen Wache mit eigenen Augen über den Himmelsbergen kreisen sah.
»Da hinten in der Truhe, liegt da auch mein Schicksalsfaden?«, fragte er rau. »Kann man sehen, wie viel Zeit mir noch bleibt?«
Die Norne der Zukunft lächelte milde. »So einfach ist es nicht! Von Zeit zu Zeit wickeln wir das Garn wieder ab, verknoten es neu oder kürzen es ein. Außerdem wissen wir gar nicht, zu wem welcher Faden gehört! Dann müssten wir ja alle Menschen und alle Wesen der Anderswelt persönlich kennen! Nein, nein, wir machen hier einfach nur unsere Arbeit, und das tun wir schon sehr lange! Es ist schön, wenn alle hundert Jahre sich einmal Menschen zu uns verirren und uns Neuigkeiten mitbringen.«
»Nadif? Würdest du mir bitte helfen?« Gerun winkte den Krieger zu sich in die Küche. Ein seltsamer Ausdruck in ihrem Gesicht ließ ihn keine Fragen stellen, er betrat einfach den benachbarten Raum. Wider Erwarten fand er nichts Ungewöhnliches vor. Die Küche sah aus wie eine Küche. In der Mitte stand ein Tisch zum Zubereiten der Speisen, über einem Herd hing ein großer Kessel, aus dem es verführerisch duftete. Auf Wandborden aufgereiht lagerten Schüsseln und Töpfe. Die meisten sahen aus, als wären sie noch nie benutzt worden.
»Was ist denn los, Gerun? Ist dir die Suppenschüssel zu schwer? Soll ich sie hinüber zu den alten Frauen tragen?« Er deutete auf die große Schüssel, die Gerun auf den Tisch gestellt und bereits mit dampfender Suppe gefüllt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, obwohl das sehr nett von dir wäre! Ich möchte, dass du dir den Herd ansiehst!«
»Den Herd? Wieso? Das ist doch eine ganz normale, aus Steinquadern gemauerte Feuerstelle. So etwas gibt es in jedem Bauernhaus!«
»Ach ja? Und wo, bitteschön, ist das Feuer?«
Verblüfft schaute Nadif in den Herd. Er sah im Inneren genau so aus wie außen: Sauber, wie frisch aufgesetzt, ohne ein Fitzelchen Ruß. Dort hatte noch nie ein Feuer gebrannt. Er hob ratlos die Schultern.
»Und? Kein Feuer, hat halt niemand welches gemacht!«
Gerun stöhnte leise auf. »Männer! Könnt ihr logisch denken? Nadif, die Suppe ist heiß! Sie hängt über einem Herd ohne Feuer! Da stimmt doch etwas nicht! Außerdem wird der Kessel nicht leer!«
»Wie meinst du das?« Neugierig sah er in den großen Topf. Er sah goldgelbe Fettaugen zwischen Gemüse und Fleischstücken schwimmen. Die Suppe duftete köstlich. Gerun nahm eine große Kelle, tauchte sie in den Kessel und schöpfte Suppe heraus.
»Siehst du das nicht? Es wird nicht weniger! Der Topf bleibt voll, auch wenn du noch so viel Suppe herausschöpfst!«
»Wie praktisch!
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