Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
tatsächlich noch Drachen gibt? Schlimm genug, dass wir im Westlichen Königreich nicht sehr beliebt sind durch deinen Spleen mit den Jungfrauen!«
»Zwei!« Kajim setzte sich in den Sessel, den Kana-Tu freigemacht hatte und verschränkte seine Hände über dem Bauch.
»Was zwei?« Kana-Tu sah seinen Onkel verwirrt an.
»Es gibt noch genau zwei Drachen in dieser Welt, dich und mich! Und die Geschichte mit den Jungfern – das ist Traditionspflege! Außerdem trinkst du auch ganz gern den guten Wein, den ich mit dem Gold für den Verkauf der Mädchen bezahle!«
»Herrje!« Kana-Tu fuhr sich mit beiden Händen in sein dichtes, dunkles Haar. »Du bist richtig stolz darauf, dass du den Wein kaufst und nicht einfach funkensprühend und wild fauchend irgendwo eine Händlerkarawane überfällst und dir nimmst, was du möchtest? Aber für diesen Luxus machst du jedes Jahr die Familie eines Mädchens unglücklich!«
»Ich bin alt genug, um mir einige Marotten leisten zu können!« Kajim lächelte milde. »Außerdem schweifst du vom Thema ab. Wenn du die Kleine noch retten willst, solltest du losfliegen! Es ist weit nach Mitternacht, die Monde neigen sich dem Horizont zu! Wenn man sie denn sehen könnte bei diesem Schneeregen!«
»Ich? Nein, Onkel, wir fliegen los! Beide!« Ohne sich umzusehen, stürmte Kana-Tu nach draußen. Seufzend erhob sich Kajim von seinem bequemen Sitz.
»Ich fürchte, du wirst noch ein wenig auf deine Mahlzeit warten müssen!«, sagte er zu dem Greifen, der mit funkelnden Katzenaugen unter dem Tisch hervorspähte und die Flügel ein wenig lüpfte. »Wenn ich seinen Eltern nicht versprochen hätte, auf den Jungen aufzupassen, würde ich ihn jetzt glatt in sein Unglück fliegen lassen!«
Bedächtig folgte er Kana-Tu und drückte sorgsam die Tür zu der warmen Unterkunft zu, damit der Wind kein Eis hineinwehte. Draußen in der Drachenhöhle lagen achtlos die Kleidungsstücke und Stiefel des jungen Mannes verstreut. Soeben stieß sich eine riesige Flugechse von der Felskante ab und zerteilte mit mühelos wirkenden Flügelschlägen das Schneetreiben. Der mächtige, mit glänzenden Schuppen bedeckte Körper verschwand sehr rasch in der Dunkelheit der tief zwischen den Felswänden wabernden Wolken. Über Kajims zerfurchtes Gesicht huschte ein Lächeln und er nickte anerkennend. Dann entledigte er sich gemächlich seines Kittels und der Hose, faltete sie ordentlich, legte sie an die Höhlenwand und beschwerte sie mit einem Stein. Die Hausschlappen stellte er akkurat daneben, bevor er tief Luft holte und sich in seine ursprüngliche Gestalt zwang. Wirbelnde Nebel, in denen kleine Funken zu sprühen schienen, verdeckten den mageren Menschenkörper. Das Untier, das sich aus dem Dunst schälte, riss sein Maul auf und brüllte laut, dass es nur so von den Bergwänden widerhallte. Dann erhob sich der zweite Drache in den Himmel über den Schneebergen.
44.Kapitel: Der Weg zur Richtstatt
Janica hatte nicht geschlafen. Die Nacht war für Wasserland ungewöhnlich kühl gewesen, aber das war nicht der einzige Grund, warum sie die ganze Nacht zitternd dagesessen und auf das winzige Loch gestarrt hatte, das ihr hoch oben in der Zellenwand einen Blick auf ein Fitzelchen Firmament gestattete. In Vollmondnächten strahlte der Himmel immer in jenem gleißendem Blau, mit dem die beiden Himmelskörper das Licht der Sonne einfingen und reflektierten.
Ja, sie hatte Angst, weitaus mehr, als in jenem Augenblick, als sich das Drachenmaul um sie schloss. Am Tag, als sie zum Drachenopfer wurde, hatte Janica einfach keine Zeit gehabt, sich Gedanken um den Tod zu machen. Außerdem hatte sie geglaubt, es sei schnell vorbei, wenn sich die mächtigen Zähne in ihren Leib bohrten.
Nun aber hatte sie einige Tage und Nächte Zeit gehabt, sich auszumalen, was ihr bevorstand. Das Feuer würde sie von unten her auffressen, sie würde sich vor Schmerzen die Seele aus dem Leib schreien. Anadid hatte sich zwar an den Befehl des Sultans gehalten, ihren Leib nicht anzurühren, aber er hatte sich täglich die Freude gegönnt, Janica die Einzelheiten ihrer Hinrichtung ausführlich zu schildern.
»Der Henker hat Anweisung, ein Feuer zu schüren, das nicht viel Rauch erzeugt. Wir wollen doch nicht, dass du vom Qualm vorzeitig ohnmächtig wirst oder gar erstickst!«, hatte er süffisant zu ihr gesagt. »Zuerst wird dir das Fleisch von den Beinen brennen, bis du auf deine eigenen Knochen sehen kannst. Später beginnen deine Eingeweide zu
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