Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
Janica sogar, einen Blick mit der Schwester des Sultans zu tauschen. Waja nickte ihr unmerklich zu. Aber sie lächelte nicht. Das letzte Fünkchen Hoffnung in Janica erstarb.
Grobe Hände griffen nach ihr und zerrten sie von dem Wagen. Janica fand sich, etwas unsicher auf den Beinen, zwischen dem durch den Sturz gar nicht mehr so ehrwürdig aussehenden Priester und einem kräftigen Mann mittleren Alters in schwarzer Tracht und mit kahlgeschorenem Schädel wieder. ›Der Henker!‹, schoss es ihr durch den Kopf. Die Reisigen zogen sich zurück, um die anderen Waffenknechte zu unterstützen, die Mühe hatten, die drängelnden Menschenmassen auf Abstand zu halten. Jeder wollte die beste Sicht auf das angekündigte Spektakel haben. Der Karren wurde davongefahren, der Sultan erhob sich. Plötzlich war es erschreckend still ringsum.
»Diese Sklavin namens Janica wurde für schuldig befunden, mit ihrem bösen Blick meinen geliebten Sohn Avid und das Schiff, das er führte, verflucht und so dem Untergang geweiht zu haben. Für dieses Vergehen muss die Zauberfrau den Feuertod erleiden! In meiner Güte gestatte ich dir nochmals, Janica, deine Schuld einzugestehen und deine Taten zu bereuen! Dann könnte der Henker dir einen schnellen Tod bereiten, bevor dein Körper auf dem Scheiterhaufen zu Asche gebrannt wird!« Werid Gur Waradems Worte hallten über den weiten Platz. Ein leises Murmeln ging durch die Menge. Vielleicht befürchteten einige der Zuschauer, die Vorstellung könne allzu schnell vorüber sein.
Janica sah sich grimmig um. Die Gesichter der vielen Menschen ringsum verschwammen zu einer einzigen bunten Masse. Nein, sie wollte niemanden um sein Vergnügen bringen! Sie hob den Kopf, um dem Sultan ins Gesicht sehen zu können.
»Ihr wisst, dass ich weder Schuld am Tod Eures Sohnes Avid trage, noch kann ich zaubern! Ich habe Avid lieben gelernt, und ich liebe ihn noch immer! Vielleicht solltet ihr Prinz Anadid fragen, aus welchem Grund das Schiff im Ewigen Meer versank!«
»Genug!« Anadid sprang auf. »Herr Vater, dieses Weib hat keine Gnade verdient! Beginnt endlich mit der Hinrichtung!«
Werid starrte seinem Sohn missbilligend an und hob die Hand.
»Scharfrichter, walte deines Amtes! Sobald der Ehrwürdige Ratgeber Inared Gur Radem das vollständige Urteil verlesen hat, wird das reinigende Feuer entzündet und die Untat an meinem Sohn Avid gesühnt!« Der Sultan nahm wieder Platz, wobei er umständlich seine wallenden Gewänder ordnete. Das gab Anadid Zeit, sich ebenfalls niederzusetzen und einen weiteren Fauxpas zu vermeiden. Ohnehin achtete jetzt kaum jemand auf ihn, denn der Henker stieß Janica zu der Leiter hin, die auf den Holzstoß hinaufführte. Der Priester kniete sich in den Staub – seine weißen Gewänder waren sowieso schon schmutzig – und begann, vor sich hinzubrabbeln und dabei mit den Armen zu fuchteln. Inared warf dem Sprachrohr der Götter einen giftigen Blick zu, entrollte das gesiegelte Pergament in seinen Händen und begann laut zu lesen.
»Wir, Werid Gur Waradem, Sultan des Wasserlandes, Gebieter über die Städte, Ebenen und Berge …«
Janica versuchte, nicht hinzuhören. Das gelang ihr ganz gut, denn an der Leiter ergab sich ein ganz banales Problem. Sie wandte sich zu dem Scharfrichter um, der noch immer seine Hand zwischen ihren Schulterblättern platziert hatte.
»Kannst du mir verraten, wie ich mit gefesselten Händen dort hinaufsteigen soll?«
Der Henker grinste und zog seinen Dolch aus der Scheide, um ihr die Fesseln durchzutrennen: »Du wirst doch keinen Ärger machen? Mich in eine Kröte verwandeln oder so?«
»Wenn ich nicht gerade etwas anderes vorhätte, würde ich das glatt versuchen!«, murmelte Janica und rieb sich die Handgelenke. Ihre Finger kribbelten unangenehm, denn der Strick war so fest geschnürt gewesen, dass das Blut kaum zirkulieren konnte. Beherzt griff sie nach den Leitersprossen. Sie wollte Anadid nicht die Freude machen, angesichts des nahen Todes Schwäche zu zeigen. Das anerkennende Nicken des Henkers entging ihr. Er folgte ihr auf dem Fuße.
Auf dem Holzstoß erwartete Janica eine kleine Plattform und – ein Pfahl. Natürlich. Alles wiederholte sich. Es fehlte nur noch, dass ihr der Henker jetzt die Kleider vom Leib riss. Aber diese Demütigung würde ihr vermutlich erspart bleiben, jedenfalls so lange, bis die Feuerzungen nach ihr leckten. Die zarte Seide würde beim ersten Funken aufflammen und ihr vom Leibe brennen. Keine angenehme
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