Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
größten Vogels, der ihm bekannt war, herauf. Schon spürte er, wie sein Leib sich krümmte, wie Federn seine Haut durchbrachen. Sein Schrei der Qual blieb stumm, denn sein menschlicher Kehlkopf und die Stimmbänder waren in einem langen Vogelhals aufgegangen. Wirre Fetzen aus Hirngespinsten ordneten sich zu einem einzigen Gedanken: Er musste diese Frau vor der Kälte und dem Regen schützen!
Mit matten Bewegungen lüpfte der Bergkondor einen Flügel und schob mit seinem Schnabel die Menschenfrau unter sich wie ein zu huderndes Kücken. Dann legte der Vogel seinen Kopf in das Gefieder auf seinem Rücken und glitt ermattet in einen Dämmerschlaf.
Die fünf Männer waren gleich im ersten Morgengrauen aufgebrochen. Zum Glück hatte sich der Eisregen verzogen, aber noch immer fauchte ein kalter Wind durch die Berge. Der Pfad am Fels war regennass und bedrohlich rutschig. Jeder Schritt musste bedacht sein, ein Stolpern oder Ausgleiten bedeutete den sicheren Tod.
Sie entdeckten den Kondor in schwindelnder Höhe in der Felswand. Der Vogel, weitaus größer als ein Mensch, hob nur matt ein wenig den Kopf, als die Männer die noch immer bewusstlose Janica unter seinem Flügel hervorzogen. Doch sie atmete gleichmäßig, und ihr Puls schlug kräftig. Die wortkargen Bergbauern nickten sich einander anerkennend zu, bevor sie Janica auf dem Rücken des kräftigsten von ihnen – einem der Söhne Tirinas – festbanden. Er machte sich sogleich mit seiner kostbaren Last an den Abstieg. Seine vier Gefährten derweil sahen sich recht ratlos an.
»Dies hier ist zweifelsohne Kana-Tu. Was ist mit ihm? Ist er krank?« Vorsichtig berührte einer der Männer das Rückengefieder des Kondors, ohne den beeindruckenden Schnabel des Vogels aus den Augen zu lassen. Doch das Tier regte sich nicht. Nur am Zwinkern der Nickhaut konnte man erkennen, dass noch Leben in ihm war.
»Krank? Ich weiß nicht!« Der Älteste der Bergbauern hockte sich nieder, um den Vogel genauer zu betrachten. »Ich weiß nur, dass wir ihn nicht nach unten bringen können. Wir müssten alle anpacken, und dazu ist der Weg zu schmal. Vielleicht erholt er sich ja hier oben so weit, dass er wenigstens bis ins Tal hinabfliegen kann!«
Er löste seinen Umhang von den Schultern und warf ihn über den Rücken des Kondors. Seine Begleiter folgten seinem Beispiel.
»Vielleicht wärmt ihn das etwas auf! Hat jemand von euch Branntwein bei sich? Wir sollten ihm etwas davon einflößen!«
»Einem Vogel etwas einflößen? Wie soll das gehen? Willst du ihm etwa den Schnabel öffnen? Und Branntwein? Wäre Wasser nicht besser?«
»Ein richtiger Vogel ist Kana-Tu nicht gerade …«
Die Männer tauschten hilflose Blicke. Dann beschlossen sie, dass zwei von ihnen bei dem Bergkondor wachen sollten. Mehr konnten sie nicht tun für Kana-Tu, der in seiner Vogelgestalt reglos vor sich hindämmerte.
Gegen Mittag, als die beiden Wächter ausgetauscht wurden, zogen wenigstens die Wolken ab und die Strahlen der Sonne erwärmten die Luft ein wenig. Doch mittlerweile verschwand das Himmelslicht bereits wieder hinter den Gipfeln. Kühle Schatten legten sich auf den Felsenpfad, auf dem noch immer der Kondor von zwei Bergbauern bewacht wurde.
»Wenn er noch eine Nacht hier verbringen muss, wird er sterben! Wir müssen jetzt hinunter, wenn wir uns nicht auch die Nasen abfrieren wollen!«, sagte einer der Männer traurig und nahm einen kräftigen Schluck aus der Kruke voller Würzwein, den sich die Beiden als Wegzehrung mit hinauf in die Höhe genommen hatten. »Könnten wir wenigstens Kajim erreichen! Der alte Drache wäre in der Lage, Kana-Tu ins Tal zu bringen!«
Der Bauer strich bedauernd mit der flachen Hand über den Rücken des Vogels. Zuckten da etwa die Flügel des Kondors? Rasch schob er die Mäntel vom Rücken des Tieres. Tatsächlich, die mächtigen Schwingen bebten ein wenig. Jetzt hob Kana-Tu auch seinen Kopf, öffnete zuerst die Augenlider und ließ dann auch die Nickhaut zurückschnellen. Der Blick seiner gelbbraunen Augen mit der großen runden Vogelpupille war klar.
»Glaubst du, wenigstens bis hinunter in das Tal gleiten zu können? Hier oben können wir nichts für dich tun!« Der Bergbauer sprach zu dem Kondor, als hätte er einen Menschen vor sich, war aber vorsichtshalber gleich seinem Kameraden etwas zurückgewichen.
Der Vogel stemmte sich mit schwankendem Kopf auf seine Läufe. Unbeholfen tappte er bis zu der Felsenkante. Tief unter ihm breitete sich die ganze
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