Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
Janica artig. Wie schade, dass sie Tirina nun nicht mehr wiedersehen würde! Sie mochte diese Frau wirklich sehr gern, sie hatte Janica aufgenommen wie eine Mutter.
»Schlaf’ gut, Kleines, und träume etwas Schönes!«, murmelte Tirina und nippte an ihrem Tee. Janica hatte derweil schon die Küche verlassen.
Mit offenen Augen lag Janica vollständig angezogen auf dem Bett. Sie lauschte in die Stille und stand schließlich auf, um an eines der Fenster zu treten. Die beiden Monde hingen in ihrer vollen runden Gestalt am Himmel und schickten ihr silbrig blaues Leuchten hinunter in das Tal. Das Mondlicht war so hell, dass jede Einzelheit dort draußen erkennbar war; die Gebäude der Hofstellen, die Bäume, selbst die Weidepfähle auf den Wiesen konnte man so gut wie am helllichten Tag sehen. Allerdings wirkte alles irgendwie geheimnisvoll, als hätte ein Magier sämtliche Farben weggehext bis auf Blau und Silber und natürlich das unheimliche Schwarz der Schatten.
Janica ging leise zur Tür und drückte sie auf. Tirina war so freundlich gewesen, einige der Nachtlichter brennen zu lassen. Da sich die Heimlichkeit draußen auf dem Hof befand, war nicht auszuschließen, dass Janica dieses stille Örtchen in der Nacht aufsuchen musste. Janica lächelte etwas wehmütig ob dieser Fürsorglichkeit, als sie die Treppe nach unten schlich und schließlich die Tür nach draußen öffnete. Es war nicht abgeschlossen. Wie sie inzwischen erfahren hatte, versperrte im ganzen Tal niemand sein Haus. Wozu auch?
»Die einzigen ungebetenen Gäste, die wir in den letzten Jahren hatten, waren ein paar Wölfe und einmal ein verirrter Höhlenbär. Dessen Pelz liegt nun vor Kana-Tus Kamin!«, hatte Tirina erklärt, als sie am Nachmittag mit Janica durch das Tal spaziert war. Die Prinzessin hoffte inständig, dass nicht gerade heute wieder ein Bär oder Wolf beschlossen hatte, dem Tal einen Besuch abzustatten.
Man musste den völlig verwilderten Blumengarten mit der verwitterten Grabplatte Lilitas durchqueren, um auf den Weg zu gelangen, der sich durch das ganze Tal wand, von Hof zu Hof, bis hinunter zu dem glasklaren Wasser des Sees. Janica hatte ihre Hände in das türkisblaue Nass gehalten. Das Gletscherwasser war eisig kalt gewesen, und von fern hatte sie das Donnern des Wasserfalles hören können, mit dem das Seewasser über den Felssturz hinweg in die Tiefe der Klamm rauschte. Auch von dieser Seite drohte dem Tal keine Gefahr, diese Barriere war unüberwindlich für ein menschliches Wesen.
Man konnte diesen Ort tatsächlich nur über den halsbrecherisch anmutenden Pfad verlassen, den Tirina Janica ebenfalls gezeigt hatte: »Wir zahlen mit Einsamkeit für unsere Sicherheit, Janica! Aber jeder, der hier lebt, hat sich bewusst dafür entschieden. Die meisten der jungen Leute verlassen irgendwann das Tal, um sich die Welt dort draußen anzuschauen. Manche kommen wieder, andere nicht.«
Janica steuerte schnurstracks auf den schmalen Felsensteg zu. Es konnte nicht schwer sein, in diesem hellen Mondlicht den Berg zu erklimmen. Jedes Steinchen war deutlich zu erkennen. Wie sie es von Tirina gesehen hatte, stopfte Janica den Saum ihres Rockes in den Bund, um sich besser bewegen zu können. Den beiden Monden oben am Nachthimmel war es sicherlich egal, ob sie dabei unschicklich ihre Beine entblößte! Janica warf noch einen Blick zurück zu Kana-Tus Haus. Seltsam, warum schien es ihr, als würde sich eine Hand um ihr Herz schließen und es schmerzhaft zusammendrücken? Rasch wandte sie sich ab und begann den Aufstieg.
Der Weg beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit. An manchen Stellen musste sie sich flach an die Felswand drücken, weil der Raum bis zu dem immer tiefer werdenden Abgrund so schmal war, dass ihre Füße dort kaum Halt fanden. Janica gab sich Mühe, nicht nach unten zu sehen. Sie war sich sicher, angesichts der tödlichen Tiefe jeglichen Mut zu verlieren. Ihre Hände schmerzten schon bald, sie hatte sich die Finger an scharfen Felskanten aufgerissen, weil sie dort Halt gesucht hatte. Dazu kam dieses Stechen in ihrer Seite! Mühsam rang Janica nach Luft. Sie war körperliche Anstrengungen dieser Art nicht gewohnt, Prinzessinnen klettern nur ganz selten in großer Hast steile Bergpfade empor.
Unter einem Überhang weitete sich der Weg. Mit einem Seufzer setzte sich Janica an die Felswand, die sich hier über sie wölbte wie ein Dach. Diese Stelle hier schien ihr sicher genug zu sein, um sich für einen Augenblick auszuruhen,
Weitere Kostenlose Bücher