Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
Schönheit des Talkessels mitsamt dem türkisfarbenen Auge des Gletschersees aus. Die Häuser der Bergbauernhöfe sahen von hier oben aus wie verlorenes Kinderspielzeug. Langsam, ganz langsam breitete der Kondor seine Schwingen aus. Die beiden Wächter wichen noch weiter auf den Pfad zurück.
»Ob das gut geht?«, murmelte der Bauer, der Kana-Tu die wärmenden Mäntel vom Rücken gezogen hatte. »Das sieht doch ein Blinder, dass der Vogel zu schwach zum Fliegen ist!«
Mit einem Ruck stieß sich der Kondor von der Felskante ab. Mit gebreiteten Flügeln stürzte er in die Tiefe. Schockiert starrten die beiden Bauern ihm nach. Warum schlug Kana-Tu nicht mit den Schwingen? Hatte er tatsächlich nicht mehr die Kraft dazu?
Die Bauern hatten vollkommen recht mit ihrer Vermutung. Kana-Tu war nicht in der Lage, seine Flügel zu gebrauchen. Er hatte Mühe, bei Besinnung zu bleiben und konzentrierte sich völlig auf die Instinkte, die tief versteckt in seinem Bewusstsein die Reaktionen seines Körpers steuerten. Seine Handschwingen drehten mit einer minimalen Bewegung die Schwungfedern in den Wind. Wie große Segel bremsten die Flügel seinen Sturz. Dann spreizte der Vogel seine Schwanzfedern und lenkte seinen Fall in eine Spirale. Nun konnte er nur noch auf einen Aufwind hoffen, sonst würde er hart aufschlagen.
Kurz über den ersten Baumkronen begann die Luft, den Kondor zu tragen. Er schwebte jetzt langsam über die Weiden der Nordziegen, die nervös zu ihm aufsahen. Kana-Tu glitt schließlich bis in das Geröll, das die Ufer des Baches säumte. Inmitten der Steinbrocken, die das Frühjahrshochwasser hinterlassen hatte, gelang es ihm, relativ sanft zu landen. Er schaffte es nicht einmal mehr, die Flügel auf dem Rücken zu falten. Das erledigten die Talbewohner für ihn, die ringsum auf ihn zugelaufen waren und sich nun um ihn scharten.
Kana-Tu sah nur verschwommen, wie die Leute zwei junge Birken fällten und mit Hilfe von Kleidungsstücken eilends eine Trage konstruierten. Dann umfing eine gnädige Dunkelheit all seine Sinne. Er spürte nicht mehr, wie vier kräftige Burschen seinen Körper auf die provisorische Bahre wuchteten. Der Kondor war zwar nicht allzu schwer, aber bei weitem nicht so handlich wie ein Menschenleib.
Tirina sah der merkwürdigen Prozession, die sich dem Haus näherte, mit gemischten Gefühlen entgegen. War der junge Drache am Leben geblieben, oder brachte man ihr eine Leiche ins Haus? Zumindest Janica ging es wieder gut. Die junge Frau hatte sogar schon von der Hühnerbrühe getrunken, die Tirina ihr zubereitet hatte.
Verblüfft wich Tirina zurück, als sie sah, was die Männer da heranschleppten. Der große Vogel lag wie tot mit ausgestrecktem Hals, hängenden Flügeln und verdrehten Läufen auf der Bahre.
»Ist … das … Kana-Tu? Ein Bergkondor?«, stammelte sie fassungslos.
»Er lebt noch!« Einer der Männer nickte ihr zu, während die Trage abgesetzt wurde. »Was machen wir mit ihm? Legen wir ihn im Stall auf eine Schütte Stroh?«
»Auf keinen Fall!« Eine helle energische Stimme ließ die Männer und Tirina zusammenzucken. Janica trat aus dem Haus, barfuß und nur mit einem kurzen, ärmellosen Hemdchen bekleidet. »Bringt ihn hinauf in sein Bett!«
»Mädchen, was denkst du dir? Du solltest unter den Decken liegen und dich ausruhen! Nicht einmal etwas übergezogen hast du dir! Du wirst dir noch den Tod holen!«, schimpfte Tirina besorgt. »Außerdem können wir dir unmöglich diesen Vogel ins Bett legen!«
»Wieso nicht? Schließlich ist es sein Bett! Und Platz ist genug, oben auf dem Berg ging es enger zu, nicht wahr?« Janica sah den Männern nacheinander in die Augen, bis diese schließlich zustimmend nickten. Sie ließ sich von Tirina erst dazu überreden, sich wieder hinzulegen, als die Männer die Bahre samt dem Tier die Treppe hinaufgewuchtet und den Kondor auf die Matratze gebettet hatten.
Bekümmert starrte Janica den schlaffen Körper des Vogels an, der nun an ihrer Seite ruhte. Nur das Zucken der Lider über den geschlossenen Augen verriet, dass noch Leben in ihm war.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal neben einem Geier im Bett liege!«, murmelte sie leise und streckte die Hand aus, um über den stockhässlichen, weil wie bei jedem Kondor federlosen, Vogelkopf zu streichen. »Du wirst doch nicht sterben? Weißt du, ich glaube, ich liebe dich, Kana-Tu! Es macht mir auch nichts aus, wenn du ein Geier bleiben musst, wirklich nicht! Hauptsache, du stirbst
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