Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
Nadif aufgeschlitzt hatte, verstummte abrupt. Gerun war froh, dass sie noch immer die Lider fest zusammengekniffen hatte. Sie wollte nicht wissen, wie Nadif den Mann zum Schweigen gebracht hatte. Sie lag einfach ganz still da und wunderte sich, dass ihre Seele noch immer nicht beschlossen hatte, ihren Körper zu verlassen.
»Ich wusste ja nicht ...«, flüsterte Nadif nahe an ihrem Ohr. »Es tut mir wirklich leid, und nach der Sache mit Ferinic ... Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen!«
Beinahe hätte sie aufgeschrien. Gerun spürte etwas Kaltes, Feuchtes auf ihrer Haut. Ganz sanft. Jetzt öffnete sie doch die Augen. Nadif hatte das Dungfeuer wieder geschürt, und im schwachen Schein der Flammen sah sie, dass er vor ihr kniete und mit einem nassen Stofffetzen das Blut von ihrem Busen tupfte. Er hatte sein Gesicht nicht verhüllt. Im Zwielicht des Feuers sah die zerschundene Hälfte seines Antlitzes aus wie ein Totenschädel.
Gerun fühlte sich merkwürdig leer. Sie sah Nadifs Hand, die vorsichtig die Spuren seines Zorns von ihr abwusch, sie sah vage die dunklen Hügel der Leichen der Hirten, die Nadif mit ihren schwarzen Gewändern abgedeckt hatte. Ungerührt rupften die Pferde ganz in der Nähe von dem harten Gras, Gerun hörte das Mahlen ihrer Zähne. Die Ziegen konnte Gerun zwar nicht sehen, aber riechen. Zwei Menschen waren gestorben, aber die Welt ringsum nahm kaum Notiz davon. Gerun trank gierig, als Nadif ihren Kopf anhob und ihr Wasser einflößte. Bevor sie in die Tiefe eines erschöpften Schlafes glitt, fiel ihr auf, dass die Mondsicheln wieder ihren gewohnt hellblauen Schimmer angenommen hatten.
30.Kapitel: Der Hauch des Todes
Gerun wusste, dass die Geister der Unterwelt schon auf ihre Seele warteten. Sie sah die grässlichen Fratzen der Unholde hinter jeder Sanddüne grinsen, sie schwebten über ihrer kleinen Karawane am gelbfahlen wolkenlosen Himmel. Der vierte Tag in der Wüste neigte sich dem Ende zu. Selbst die zähen Ponys der Hirten, auf denen Nadif und Gerun ritten, damit die müden Gäule aus den Ställen des Königs nur die Satteltaschen zu tragen hatten, stolperten nurmehr vor sich hin.
Das frische Fleisch des Zickleins, das Nadif geschlachtet hatte, bevor er den Bock von seinen Fesseln befreit und samt seinen Geißen mit kräftigen Klapsen in die Weite der Steppe getrieben hatte, war längst aufgebraucht. Das letzte Wasser hatten sie sich am Morgen mit den Pferden geteilt.
»Wir hätten ... sie ... begraben ... sollen!«, krächzte Gerun mit heiserer Kehle. Sie hatte noch immer das Gefühl, von den ruhelosen Seelen der Hirten verfolgt zu werden. Ganz gleich, was die Männer ihr angetan hatten, die Vorstellung, dass ihre Körper als Fraß für die Geier liegengeblieben waren, machte ihr zu schaffen. Mit gesenktem Kopf ließ Nadif sein Pony vor sich hin trotten. Er machte sich nicht die Mühe, Gerun eine Antwort zu geben. Hier draußen gab es keine Wege, nur Sand und hier und da einige Felsen, die sich aus der Endlosigkeit erhoben wie glattpolierte Knochen.
Überhaupt - Knochen! Am Vortag hatte sich Gerun noch maßlos entsetzt, als sie aus dem Sand heraus die leeren Augenhöhlen eines menschlichen Schädels angestarrt hatten. Sie hatte zunächst gedacht, ein besonders glatter weißer Stein rage aus dem Boden. Dann hatte sie die Reste der Rippenbögen erkannt und ihr Blick hatte sich an dem Schädel festgesaugt, als könnte sie auf diese Weise das längst vergangene Gesicht erahnen. Inzwischen waren sie an etlichen Skeletten vorbeigeritten, an den länglichen Schädeln von Pferden, Eseln und Rindern, an den runden von verlorenen Menschen. Gerun sah nicht mehr hin. Gebeine gehörten in diese Wüste offenbar wie andernorts Grashalme.
Mit einem geradezu menschlich anmutendem Seufzer stürzte das Pferd hinter ihr zu Boden. Es streckte zuckend seine Beine aus, dann lag es still.
Nadif zog die Zügel an und rutschte aus dem Sattel des Ponys. Er legte eine Hand auf die vibrierende Flanke des todmüden Gaules, sah auf zu Gerun und schüttelte den Kopf. Die Bewegungen, mit denen er den Sattelgurt löste, muteten beinahe zärtlich an. Verständnislos sah Gerun zu, wie er die Satteltaschen abnahm und sie über die Kruppe des anderen Packpferdes hängte. Er kam mit dem Topf zurück, in dem der Tee gegen sein Fieber gebrodelt hatte.
»Was hast du vor, Nadif?« Gerun starrte wie gebannt auf die blanke Klinge des Dolches, den er in der rechten Hand hielt.
»Er stirbt, Gerun! Wenn ich
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