Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
Rücken. Woher sie die Kraft dazu nahm, wusste sie selbst nicht. Der Elf landete hart neben ihr und verursachte eine kleine Sandfontäne.
»Er stirbt!« Gerun berührte mit den Fingerspitzen die aufgesprungenen Lippen Nadifs. Von seinem Gesicht war jetzt nicht viel mehr zu sehen als der Mund und die Augenpartie, gnädig verhüllten die Stofffetzen seine Entstellung. Unter den geschlossenen Lidern sah Gerun Nadifs Augäpfel heftig zucken.
»Dieser Mensch ist laufend auf irgendeine Art am Sterben!«, zeterte Nuffl. »Die Sonne sinkt, gleich wird es kühler. Du wartest hier auf mich, ich bin gleich zurück!«
Beinahe wäre Gerun in ein verzweifeltes Gelächter ausgebrochen, wenn sie dazu noch die Kraft gehabt hätte. Warten? Ja, glaubte dieser Knilch aus der Anderswelt etwa, sie könnte noch einen einzigen Schritt tun?
Die Nacht fiel so rasch nieder wie ein Vorhang. Gerun hockte neben Nadif, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und sah hinauf in den samtig schwarzen Himmel. Die Sterne waren erstaunlich nahe. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken, dann würde sie die Himmelsfeuer berühren können.
Noch atmete Nadif. Die kühle Luft, die aus der Unendlichkeit des Himmels herabfiel, schenkte ihm und Gerun ein Fitzelchen Leben. Traurig betrachtete Gerun den lang ausgestreckten Körper des Mannes. Für ein gemeinsames Leben mit ihm hatte es nie eine Chance gegeben. Nun würden sie wenigstens gemeinsam sterben. Bald. Wenn die Sonne über den Horizont stieg und die Wüste wieder zu einem Glutofen werden ließ.
»Was sind die Dinger auch so schwer!« Nuffls schrille Stimme verscheuchte Geruns trübe Gedanken. Etwas Schweres landete neben der jungen Frau in den Sand, gefolgt von einem flatternden Elf. Sand stiebte auf und Gerun musste niesen.
»Was ist das?« Sie tastete über etwas Rauhes. Es war hart, fühlte sich unangenehm ledrig an und so groß, dass sie es mit beiden Händen kaum umfassen konnte. Erstaunlich, dass der kleine Elf dieses Ding herbeigeflogen hatte!
»Eine Frucht vom Kaktus! Du musst sie aufschneiden und das Fleisch darinnen essen! Und wenn du diesen Nichtsnutz hier noch ein wenig behalten willst, gibst du ihm auch davon!« Der Elf fuchtelte mit seinen Ärmchen in Nadifs Richtung. »Ich hole jetzt noch eine Kaktusfrucht für die Pferde, sie werden sonst keinen Schritt mehr gehen können! Und dann reicht es erst einmal wieder, du dusslige Menschin! Es liegt an dir, diesen Drachentöter zu überzeugen, dass er ab jetzt nach Norden gehen muss! Hörst du mir zu, du dummes Weib? Nach Norden, exakt in Richtung Mitternacht! Hast du das verstanden?«
Gerun nickte. Das konnte der Elf in der Dunkelheit unmöglich sehen. Aber am klatschenden Flügelschlag konnte sie hören, dass er sowieso wieder aufgeflogen war. Sie tastete nach dem Jagddolch an Nadifs Gürtel. Die Schale von Nuffls Gabe war hart, und Gerun musste sich mit beiden Händen auf den Messergriff stemmen, um die Frucht zu teilen. Ein süßer, frischer Duft stieg auf. Behutsam hob Gerun eine Hälfte der Kaktusfrucht an ihre Lippen. Der Saft prickelte leicht auf ihrer Zunge.
Eine weitere Frucht klatschte knapp neben ihr in den Sand.
»Nuffl? Wo bist du?«
Sie erhielt keine Antwort.
31.Kapitel: Das Wunder in der Wüste
Nadif erwachte von dem unsäglichen Jucken der papierdünnen Haut über seiner verbrannten Gesichtshälfte. Im Zwielicht des Morgens sah er Gerun den Pferden die Sättel auflegen und ihre Habseligkeiten zusammenraffen. Sie hatte sich Kopf und Gesicht noch nicht wieder verhüllt, und Nadifs Blick saugte sich regelrecht fest an ihrem Antlitz. Geruns braunes Haar hing strähnig und zerzaust herab, ihr Gesicht war schmutzig und wirkte müde und fleckig. Und doch war sie die schönste Frau der Welt.
Er konnte sich vage erinnern, dass sie ihn in der Nacht mit einem vor Saft triefendem, süßen Fruchtfleisch gefüttert hatte. Oder war das alles nur ein Traum? Nein, irgendetwas musste passiert sein, sonst wäre er längst in der Unterwelt. Gerun hatte nicht bemerkt, dass er in den letzten beiden Tagen kaum etwas getrunken hatte, damit das Wasser für die Frau und die Pferde länger reichen mochte. Natürlich hatte er sich mit dieser Enthaltsamkeit selbst etwas vorgemacht. Die Todesschatten hatten ihn in die Knie gezwungen, und er hatte nur bedauert, Gerun so hilflos den Geistern der Wüste überlassen zu müssen. Nun pochte der Gedanke, dass sie ihn erneut gerettet hatte, wie ein Brandpfeil in seinem Hirn. Wie hatte sie das
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