Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
Wunschbild, eine Fata Morgana!
Die Ponys drängten sich an ihm vorbei, mit weit aufgerissenen Augen und geblähten Nüstern trabten sie auf das Wasser zu, gefolgt von dem überlebenden Pferd aus dem Stall des Königs, das auf unsicheren Beinen seinen Artgenossen hinterherstakte. Verwirrt starrte Nadif den Tieren nach. Hatten die Pferde etwa auch Halluzinationen?
»Verdammt, Nadif, du musst aufstehen! Es sind nur noch ein paar Schritte!« Gerun packte ihn am Arm und versuchte, ihn auf die Beine zu ziehen. Es gelang ihr nicht, dazu war der geschwächte Mann viel zu schwer.
»Dann musst du eben kriechen!«, kreischte Gerun panisch. »Du darfst nicht hier liegenbleiben, hörst du?«
Sie presste ihre Fingernägel schmerzhaft in seinen Oberarm. Und Nadif begann, auf allen Vieren auf das Trugbild zuzurobben. Der große Krieger kroch auf dem Bauch, weil ein Weib es so wollte. Er lachte irre. Gras kitzelte an seiner Nase. Das Hirngespinst erwies sich als äußerst real. Nadifs Augen füllten sich mit Tränen, dann glitt er in die Welle aus Finsternis, die über ihm zusammenschlug.
Wasser! Er öffnete instinktiv den Mund, dann die Augen. Gierig leckte er sich die kühlen Tropfen von den Lippen. Er sah Gerun, die sich über ihn beugte, und er sah zügellosen Zorn in ihren Augen blitzen. Mit Schwung entleerte sie den Rest Wasser, der sich noch in dem Topf befand, über Nadifs Gesicht.
»Wage es nicht, mir unter den Händen wegzusterben! Nicht jetzt, nicht hier!«, fauchte sie ihn an wie eine Wildkatze. Mühsam lächelte Nadif, denn die Haut seiner Lippen war aufgerissen wie eine Kraterlandschaft, aus der bei jeder Regung feine Blutströpfchen quollen. Gerade hatte sich ein zitronengelber Falter auf Geruns zerzaustes Haar gesetzt. Nadif sah noch, wie der Schmetterling gaukelnd wieder aufflog, bevor er wieder in die Dunkelheit der Ohnmacht eintauchte.
32.Kapitel: Versunken
Avid erwachte in einem Meer aus buntem, leicht gedämpften Licht: Alle Nuancen von Grün, geheimnisvolles Funkeln in Blautönen, ein Flirren in Türkis und dazwischen goldfarbenes Irisieren. Die Unterwelt war nicht grau und schwarz, wie es Avid erwartet hatte. Irritiert starrte er auf das Farbspiel, das ihn umgab. Das Leuchten der Farben drang durch eine Kuppel zu ihm, die ihn an die Facetten eines geschliffenen Diamanten erinnerte und alle Farben, die zu ihm drangen, nochmals brach. Avid glaubte, in einem Regenbogen zu schwimmen. Vielleicht war das alles nur eine böse Täuschung der Geister aus dem Schattenreich? Er schloss die Augen für einen Moment, hob dann vorsichtig die Lider an. Die Kaskaden aus vielfarbigen Licht blieben.
Avid versuchte, sich zu erinnern. Sein Schiff war zerborsten in einem kreischenden, tobenden Feuer. Er war in das kalte Wasser des Ewigen Meeres geschleudert worden und ertrunken. Er war tot, so einfach war das.
Nein, es war nicht einfach. Entweder war all das, was ihm über die Unterwelt erzählt worden war, völlig falsch, oder er war doch nicht ertrunken. Vorsichtig versuchte er, seine rechte Hand zu bewegen. Wider Erwarten gehorchte sie ihm. Er tastete über seine Brust und konnte nicht nur das Heben und Senken seines Brustkorbes durch seinem Atem spüren, sondern auch die Schläge seines Herzens. Tot war er also nicht.
Verwirrt sah sich Avid um. Doch rings um ihn war nichts als diese Diamantenfacetten, die das sanfte Licht und die Farben in immer neuen Variationen spielen ließen. Der Boden schien aus feinkörnigem weißen Sand zu bestehen. Er lag auf einer Art weichem Diwan, bedeckt mit einem cremefarbenem Tuch. Seine Hände glitten tastend über den weichen Stoff. Das war weder Seide noch Linnen, auch kein grobes Ziegenwolltuch aus dem Norden. Und er war nackt. Vielleicht war das hier doch der Eingang zur Unterwelt. Die Götter mochten gerade abwägen, welche Martyrien sie ihm auferlegen wollten im Schattenreich des Todes. Avid schloss die Augen wieder und lag ganz still. Sollten sie doch kommen, die Dämonen! Er wollte den Geistern der Anderswelt begegnen wie allen Widrigkeiten in seinem Leben – mit Tapferkeit im Herzen und einem kühlen Verstand.
Er meinte Schritte zu hören, ein leises Knirschen im Sand. Avids Muskeln spannten sich unwillkürlich an, und so erschrak er auch nicht, als sich etwas Kühles auf seine Brust legte.
»Wie ist dein Name?«, sagte eine melodische Frauenstimme mit einem kaum hörbaren Akzent zu ihm. Jetzt schlug er doch wieder die Augen auf. Die Frau war überirdisch schön. Ihr
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