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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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hinter sich die Tür. Stille. Auf dem Boden und im Regal bemerkte er eine dünne Staubschicht. Würde er es ertragen, in diesen Wänden ein anderes Kind spielen zu sehen? Lachen zu hören? Was sollte mit Justins Gummistiefeln und seiner Regenjacke im Flur geschehen? Mit dem Türrahmen, den er in der alten Wohnung ausgebaut und hier wieder eingesetzt hatte, weil die vielen Striche darauf das Wachstum seines Sohnes markierten?

    Wie sollten sie das Haus aufteilen? Josh müsste in Pauls Schlafzimmer ziehen, Christine für sich einen Teil des Wohnzimmers abtrennen, und ihr Kind bekäme nach den ersten Monaten dieses Zimmer. Wohin dann mit den Stofftieren? Mit den Büchern? Den Erinnerungen?
    Paul überlegte, wie oft er mit Justin einen Ausflug nach Lamma gemacht hatte. Ein- oder zweimal waren sie in seinem letzten Lebensjahr, vor der Diagnose, zum Wandern und Baden auf die Insel gefahren. Paul erinnerte jetzt, wie sie auf dem Oberdeck der Fähre hinter dem Steuerhaus standen und er seinem Sohn die einzelnen Instrumente auf der Brücke erklärte. Die stillen, blauen Augen, denen nichts entging. Ein später Herbsttag, wolkenloser Himmel, wunderbar milde, feuchte Luft. Meredith war zu Hause geblieben oder auf Dienstreise, dass wusste er nicht mehr. Sie marschierten über die Insel zum Lo So Shing Beach. Als Justin nicht mehr konnte, trug er ihn auf seinen Schultern den steilen Anstieg zum Aussichtspavillon hinauf. Ein Picknick am Strand. Warmer Sand auf der Haut. Vater und Sohn. Wortlose Verständigung. Vertrauen, das keine Grenzen kennt. Auf dem Rückweg saßen sie im kleinen Boot von Sok Kwu Wan nach Aberdeen am Bug, spuckten Wassermelonenkerne über Bord und dachten sich Geschichten aus. Jede Welle hob das Schiff sanft in die Höhe, die Gischt spritzte auf ihre warmen Körper, und Justin quietschte und kicherte vor Vergnügen.
    Paul schloss die Augen und sah seinen Sohn vor sich.
    Der Schönheit in ihr Versteck folgen, auch wenn es nur eine Erinnerung war, die tief im Labyrinth seines Gedächtnisses lag und so wehtat, dass er es kaum aushielt. Vergessen wäre Verrat. Vergessen ist ein Verwandter des Todes.
    Wir müssen wissen, ob in uns genug Platz ist, hatte er Christine erklärt. Alles andere findet sich.

    Reichte ein »Ja!« auf diese Frage, um alle Probleme und Schwierigkeiten zu lösen, die ein Kind, zumindest in ihrem Fall, mit sich brachte? Oder hatte Christine Recht? Machte er es sich zu einfach? Paul zweifelte plötzlich an seinen eigenen Worten.
    War in ihm genug Platz? Konnte ein Kind mit einem Bruder aufwachsen, der immer da war und doch nie anwesend? Jeder Vergleich war ein Feind des Glücks. Wie sollte es ihm gelingen, keine Parallelen zu ziehen? Sein Kind in den Schlaf wiegen, ohne Justin zu sehen? Wie viel kindliche Nähe ertrug er noch? Und wie viel Angst? Würde ihr Kind gesund auf die Welt kommen? Würde er nicht in jedem Schrei, jeder Veränderung, jedem Ausschlag nach Symptomen einer schweren Krankheit suchen? Konnte er jemals wieder in einem blauen Fleck nichts als einen blauen Fleck sehen? In einer blutenden Nase nichts als eine blutende Nase? Er wusste um die Zerbrechlichkeit des Glücks, und er müsste, seinem Kind zuliebe, doch so tun, als gäbe es nichts Robusteres. Als wäre darauf Verlass. Unter keinen Umständen dürfte sein Sohn oder seine Tochter die Angst des Vaters spüren. War er dazu fähig?
    Paul hatte keine Antwort, weder auf diese Frage noch auf die vielen anderen, die sich ihm stellten, seit er wusste, dass sie ein Kind erwarteten. War er mit dreiundfünfzig zu alt, um noch einmal Vater zu werden? Wahrscheinlich. Wie konnte es ganz praktisch funktionieren? Er hatte nicht die leiseste Vorstellung. Wo sollten sie leben? In Hang Hau zu viert oder fünft im zwölften Stock, auf fünfzig Quadratmetern? Unvorstellbar. Reichte der Platz in seinem Haus wenigstens für sie zu viert?
    Wir sind alt genug, unserer Intuition zu trauen. Was oder wem sonst?
    Richtig, dachte Paul, nur war es nicht leicht, sie in dem Getöse der Welt wahrzunehmen. Was hatte ihm seine innere
Stimme geantwortet? Dass er dieses Kind wollte; dass es ein Geschenk war, das er nicht ausschlagen durfte. Um keinen Preis. Trotz allem. Er hatte es sofort und laut und unmissverständlich vernommen: ein irrationales, leidenschaftliches, sich allen Zweifeln und Bedenken widersetzendes »Ja«. Aus tiefstem Herzen. Eine

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