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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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kaum eine schlimmere Strafe geben. Das würde entweder ihr tiefes Misstrauen wecken - was hatte Paul getan, um ein solches Schicksal verdient zu haben? - oder großes Mitleid. Ihr Mienenspiel verriet nicht, in welche Richtung sie neigte.
    Â»Spielen Sie Mahjong?«, fragte sie plötzlich.
    Â»Ja, sehr gern, aber nicht gut.«

    Die Kellnerin brachte den Fisch, und innerhalb weniger Sekunden hatte die Mutter Paul ein großes Stück auf den Teller gelegt und sich selbst genommen. Mit einem schmatzenden Geräusch verschwand ein Teil davon in ihrem Mund, sie kaute genüsslich darauf herum und spuckte ein paar Gräten auf ihren Teller. Zwei Servierer stellten die Hühnerfüße, den Tofu und das Gemüse auf den Tisch, der Blick ihrer Mutter glitt zufrieden von einem Gericht zum anderen.
    Christine vermutete, dass in ihren Augen alles Wesentliche gesagt war. Sie beobachtete, wie sie sich mit erstaunlich flinken Bewegungen vom Essen nahm, wie sie leicht gebeugt über ihrem Teller saß, endlich schweigend, in Gedanken versunken und laut schmatzend an einem Hühnerfuß lutschte. Trotz der beschämenden Fragen empfand sie ihrer Mutter gegenüber Respekt und Zuneigung. Sie war nicht sicher, ob Paul das verstand, je verstehen könnte. Dieser alten, ruppigen, wenig charmanten und laut essenden Frau verdankte sie ihr Leben. Gleich zweimal. Mindestens. Sie hatte sie geboren. Sie hatte sie an die Grenze geschleppt und war mit ihr ins Meer gestiegen. An ihre Schultern durfte sie sich klammern, als sie im Wasser die Kräfte verließen. Sie hatte sich in der Fabrik in Kowloon die Hände blutig genäht, die Augen verdorben und den Rücken ruiniert, damit ihre Tochter eine gute Schule besuchen konnte. Das Studium in Vancouver hatte sie mit ihren wenigen Ersparnissen bezahlt.
    Christine begriff, dass sie unmöglich ohne ihre Mutter nach Lamma ziehen konnte. Dafür war die Fahrt nach Hang Hau zu lang und zu umständlich. Ihre Verpflichtungen als Tochter erlaubten ihr nicht, sie dort zurückzulassen, auch nicht für Paul und ihr gemeinsames Kind. Er würde das verstehen. Hoffte sie.

    Und ihre Mutter? Eines der wenigen Sprichwörter, an das sie sich aus ihrem Mund erinnerte, lautete: »Die einen fangen Fische, andere machen nur das Wasser trübe.« Zu welcher Sorte ein Mensch gehöre, behauptete sie, sei nicht aus seinen Worten, sondern nur aus seinen Taten zu erfahren. Dazu brauche es Zeit.
    Wenn Christine das Verhalten ihrer Mutter richtig interpretierte, würde sie Paul diese Zeit gewähren.

XV
    Sie werden Leben geben.
Sie werden Leben nehmen.
Sie werden Leben verlieren.
    Â 
    Die Worte des Astrologen. Drei schlichte Sätze, denen er keinen Glauben schenken wollte. Was können Sterne über uns wissen? Die erste Prophezeiung war eingetreten, und Paul hätte am liebsten laut »Na und?!« gerufen. Doch Meister Wongs Worte irrten jetzt durch seinen Kopf, sie folgten ihm, wohin sich seine Gedanken auch wendeten. Er hatte Leben gegeben. Bedeutete es, dass er auch Leben nehmen würde? Wessen Leben? Aus welchem Grund? Es könnte sich nur um einen Unfall handeln. Konnte er irgendetwas tun, um das zu vermeiden? Und was besagte der dritte Satz? Sie werden Leben verlieren? Seines? Davon hatte der Astrologe nichts gesagt. Christines? Das ihres Kindes?
    Paul hielt es nicht mehr auf seinem Sitz, er ging zum Heck der Fähre und blickte über das trübe Hafenwasser, in dem sich grelles Sonnenlicht spiegelte. Aus der Tür zum Maschinenraum drang das Stampfen des Dieselmotors. Vor ihm saßen drei Schüler, die gedankenverloren auf ihren Gameboys herumdrückten. An der Reling gegenüber lehnte Lammas Schlachter, der ihn mit einem Nicken grüßte; zu seinen Füßen lag auf einem Karren eine gefrorene Schweinehälfte.
    Wong hatte Christine prophezeit, dass ein Mann in ihr Leben treten würde. Und dass dieser Mann dieses Jahr nicht überleben würde. Sollten sie einen Sohn bekommen, könnte das …? Paul verstand sich selbst nicht mehr. Wie absurd und lächerlich solche Mutmaßungen klangen. Sie waren ihm peinlich, er würde nicht wagen, diese Gedankenspiele laut auszusprechen. Und dennoch: Sie beschäftigten und verunsicherten
ihn. Weshalb schenkte er nun Worten Glauben, die er zeitlebens für Hokuspokus, unsinnigen Aberglauben, Geldschneiderei gehalten hatte? Was machte ihn empfänglich für den Glauben an ein

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