Drachenspiele - Roman
vorherbestimmtes Schicksal? Nur weil der erste Satz der Voraussage stimmte? Das bedeutete noch lange nicht, dass auch die zwei anderen Prophezeiungen in Erfüllung gehen mussten. Idiotisch, dachte er, sich damit überhaupt länger zu beschäftigen.
Die Fähre legte mit einem unsanften Ruck in Yung Shue Wan an, die Holzpoller ächzten schwer unter dem Druck des Schiffes, das halbe Schwein rutschte krachend auf die Planken; Paul half dem Schlachter, es wieder auf den Karren zu hieven. Er ging langsam den Pier zum Postamt hinunter, holte aus seinem Fach zwei Rechnungen, schlenderte weiter ins Dorf. Die Vertrautheit dieser kleinen, dünn besiedelten Insel tat ihm jeden Tag aufs Neue gut. Die dümpelnden Fischerboote in der winzigen Bucht, der Geruch von Salz und Meer. Die schmale Gasse, in der fast alle Geschäfte lagen, und die sich groÃspurig »Main Street« nannte; dabei ging es in ihr so gemächlich zu, als wäre Zeit kein kostbares Gut. Wie viel menschenfreundlicher die Geräusche und das Tempo an einem Ort waren, an dem keine Autos fuhren. Seine stundenlangen Wanderungen durch die bergige, grüne Landschaft, die raue Steilküste unter ihm. Der abendliche Blick über das Meer, wenn die Sonne hinter den Bergen Lantaus verschwand und den Himmel tiefrot färbte. All das hatte sich in den vergangenen Jahren zu einer Art Heimat zusammengefügt, die er nicht wieder verlassen wollte, in der er sich sicher fühlte. Aufgehoben. Zum ersten Mal in seinem Leben. Selbst an den Anblick der drei Schornsteine eines Kohlekraftwerks, das nicht weit von Yung Shue Wan hinter einem Berg lag, hatte er sich gewöhnt.
Paul kaufte Obst, Gemüse, Reis und frischen Tofu bei Frau Ma, eine Flasche Wein bei Herrn Li und schlug den Weg nach Tai Peng ein. Nach wenigen Schritten hörte er nichts als Vogelgezwitscher, das Schaben der Zikaden, vereinzelte Kinderstimmen und gelegentliches Geklapper von Töpfen und Geschirr.
Zu Hause kümmerte er sich als Erstes um den Garten. Seit seiner Rückkehr aus Shanghai war er dazu nicht gekommen. Auf der Terrasse lagen kleine Zweige, Blätter und welke Blüten verstreut, die Bougainvillea musste er dringend beschneiden, aus dem Bambus ein paar tote Stangen ziehen, die Topfpalmen von ihren trüben braunen Blättern befreien. Er machte sich an die Arbeit und hoffte, das Fegen, Zupfen und Schneiden würde ihn ablenken.
Als er im Garten fertig war, putzte er gründlich das Haus, aà eine einfache Suppe zum Abendbrot und schaute im Internet nach, was es Neues auf der Welt gab, und ob er elektronische Post bekommen hatte.
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Betreff: test
Empfangen: 11:25
Der Absender sagte ihm nichts. Er überlegte, ob er den Brief ungelesen löschen sollte, doch nach kurzem Zögern öffnete er ihn.
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dies ist ein test!
hi paul,
will nur sehen, ob unsere e-mail verbindung funktioniert. bist
du gut in hongkong angekommen?
freu mich, von dir zu hören,
gruss aus der changle lu,
yin-yin
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Der Abschied aus Shanghai lag erst vier Tage zurück, und doch musste Paul zugeben, dass ihn seitdem weder Yin-Yin noch Da Long oder Min Fang sonderlich beschäftigt hatten. Auch jetzt erschienen ihm die wenigen Sätze im ersten Moment seltsam fremd. Christines Schwangerschaft lieà kaum Platz für andere Gedanken. Paul fühlte sich zu erschöpft, um einen längeren Brief zu schreiben, seine Antwort bestand aus ein paar Floskeln und dem Versprechen, sich demnächst ausführlicher zu melden.
Am nächsten Morgen ging er nach dem Frühstück hinauf in Justins Zimmer. Gestern hatte er den Raum, wie häufiger in den vergangenen Monaten, beim Saubermachen ausgelassen. Vorsichtig öffnete er die Tür. Als fürchte er, einen Schlafenden zu wecken. Paul hatte das Kinderzimmer ganz in Weià gehalten, den HolzfuÃboden, die Wände, die Decke. In der Mitte stand ein weiÃes Bett, darüber spannte sich ein weiÃes Moskitonetz, das ein Luftzug sanft bewegte. Die Sonne zeichnete Schatten von Bambusblättern auf die Wände, es war so hell, dass Paul geblendet die Augen leicht zusammenkniff. Die einzigen Farbtupfer waren eine gelbe und eine rote Laterne, die von der Decke hingen. Im Regal lagen zwei Ãffchen, ein Tiger und ein Bär aus Stoff, an dessen abgenutztem Fell man ermessen konnte, wie viele Abende ein Kind mit ihm im Arm eingeschlafen war. Daneben Justins Lieblingsbücher. Paul trat ein und schloss
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