Drachenspiele - Roman
um und antwortete leise: »Das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Xiao Hu ganz ruhig.
»Weil, weil â¦Â« Paul verstummte.
»Sie wollen meinem Vater doch helfen.«
»Ja.«
»Und meiner Schwester.«
»Ja.«
»Ihn davon zu überzeugen, dass wir keine Wahl haben, wäre eine groÃe Hilfe.«
»Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen?«
»Dass Sie tun, was für meine Familie das Beste ist.«
»Wir ⦠wir haben so viel belastendes Material. Die Laborergebnisse. Die anderen Kranken. Sanlitun kann doch nicht ⦠ich meine, kein Gericht â¦Â« Die Worte glitten ihm aus dem Mund, absichtslos gesprochen, an niemanden gerichtet. Er schüttelte langsam den Kopf. »Das geht nicht.«
»Warum nicht? Seinetwegen oder Ihretwegen?«
Eine scharfsinnige Frage, auf die er nicht sofort eine Antwort wusste.
»Ich habe gesehen, wie verzweifelt er ist. Ich habe gesehen, wie er um das Leben Ihrer Mutter kämpft. Er hat mich gebeten, ihm zu helfen, einen Rechtsanwalt zu finden. Das habe ich versprochen«, erwiderte Paul ausweichend.
»Sie kennen meinen Vater nicht.«
»Was ich gesehen habe, genügt mir. Mehr muss ich nicht wissen.«
»Sie glauben, er will Gerechtigkeit?«
»Ja, sicher, was sonst? Menschen sollen für das, was sie tun, zur Rechenschaft gezogen werden. Wie würden Sie das nennen?«
»Der Gerechtigkeitssinn meines Vaters ist nicht hoch entwickelt. Das versichere ich Ihnen.«
»Was, was meinen Sie damit?«, fragte Paul irritiert. Er hatte keine Vorstellung, worauf Xiao Hu hinauswollte.
»Das werde ich Ihnen sagen. Dann begreifen Sie auch, warum mein Vater und ich uns nicht verstehen. Sind Sie sicher, dass Sie es wissen wollen?«
»Wenn es Ihnen hilft.«
»Nicht mir. Ihnen«, stieà Xiao Hu ärgerlich hervor. »Wissen Sie, wie mein GroÃvater gestorben ist?«
Paul schüttelte den Kopf.
»Er hat während der Kulturrevolution Selbstmord begangen. Ist aus dem Fenster gesprungen. Aus Furcht vor den Roten Garden.«
»Das tut mir sehr leid«, erwiderte Paul. »Was hat das mit Ihrem Vater zu tun?«
»Als wir Kinder waren, hat er uns erzählt, es sei ein Unfall gewesen. Unser GroÃvater habe beim Aufhängen der Wäsche vor dem Küchenfenster das Gleichgewicht verloren.«
Da Paul nichts erwiderte, erzählte er weiter: »Später hat er so getan, als zöge er Yin-Yin und mich ins Vertrauen, und erklärte, wir seien nun alt genug, die Wahrheit über den Tod unseres GroÃvaters zu erfahren. Er behauptete, die Partei sei schuld gewesen. Sie habe ihn während der Kulturrevolution zu Unrecht verfolgt und habe ihn deshalb auf dem Gewissen.«
»Stimmt das nicht, wenn er aus Furcht vor den Roten Garden aus dem Fenster sprang?«
»Mein GroÃvater war ein Intellektueller. Er las verbotene Schriften, die er zu Hause unter dem KüchenfuÃboden versteckt hatte â¦Â« Xiao Hu machte eine Pause, als wolle er sichergehen, dass Paul jedes Wort verstand. »Davon wussten nur seine Frau und sein Sohn, Da Long. Er war es, der den eigenen Vater an die Roten Garden verriet.«
Paul senkte den Blick. »Woher wissen Sie das?«, flüsterte er.
»Aus seiner Kaderakte. Die hat mir eine Freundin aus der Partei vor einigen Monaten auf den Schreibtisch gelegt. Er hat ihn auf mehreren Sitzungen angeschwärzt. Er hat ihnen gesagt, wo die Bücher liegen. Ich habe Erinnerungsprotokolle von den Versammlungen gelesen.«
Da Long hatte seinen Vater den Roten Garden ausgeliefert. Paul dachte an Christine. An ihre Mutter. An das fast
vierzig Jahre währende Schweigen in der Familie Wu. An Wunden, die niemals heilen. Deshalb hatten Mutter und Sohn nicht nacheinander gesucht. Wie würde Christine reagieren, wenn sie davon erführe? Musste sie es wissen?
»Wie alt war Ihr Vater damals?«
»Vierzehn. Warum?«
»Sehr jung, finden Sie nicht?«
»Alt genug, um zu wissen, was es bedeutet, wenn man den Roten Garden sagt, was zu Hause unter dem KüchenfuÃboden versteckt liegt«, entgegnete Xiao Hu wütend.
»Sind Sie sicher? Damals haben viele Kinder ihre Eltern angeschwärzt. Schüler ihre Lehrer, Studenten ihre Professoren. Ihr Vater hat den Befehlen Maos gehorcht. Wieso machen Sie ihn verantwortlich, aber nicht die Partei? Sie schuf die Bedingungen, in denen Kinder ihre Eltern verrieten.«
»Weil
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