Drachenspiele - Roman
noch zwei kaufte. Ein paar Meter weiter bot ein fliegender Händler auf einem Klapptisch Raubkopien von diversen CDs und DVDs der neuesten Hollywoodfilme an.
Viele Restaurants hatten Tische und Stühle auf die StraÃe gestellt, in einem Fischlokal entdeckte Paul auf dem Bürgersteig noch einen Platz, setzte sich neben die Aquarien und einen laufenden Wasserhahn und bestellte ein Bier. Auf der StraÃenseite direkt gegenüber befanden sich ein Frisör, ein Geschäft, das traditionelle chinesische Massagen versprach, und ein Beauty Parlor. Hinter den groÃen Schaufenstern sah Paul junge Frauen hocken. Manche glotzten gelangweilt in den Fernseher, andere frisierten sich gegenseitig. Eine lackierte sich die Fingernägel.
Er leerte das Bier in wenigen Zügen und bestellte ein zweites. Ein Porsche-Geländewagen bahnte sich einen Weg durch die Bummelnden, die Menschen machten Platz, ohne zu murren. Vor dem Frisörsalon standen zwei junge Frauen in engen schwarzen Kleidern, sie mochten achtzehn, höchstens zwanzig sein. Sie rauchten, beobachteten ihn und winkten schlieÃlich. Paul grüÃte mit einem knappen Lächeln zurück und schüttelte den Kopf.
Paul hatte Bilder seiner ersten Chinareisen vor Augen. Menschen in graublauer Einheitstracht, autofreie StraÃen, Lebensmittelmarken. Fahrräder, überall Fahrräder. Gesichter voller Misstrauen und Neugierde. Wie sehr hatte sich dieses Land innerhalb von ein, zwei Generationen verändert. Den meisten Chinesen ging es Jahr für Jahr ein wenig besser, wie lange konnte das so bleiben? Was würde geschehen,
wenn die Wirtschaft nicht mehr expandierte? Wenn die Millionen von Wanderarbeitern in den Städten plötzlich keine Arbeit mehr fänden? Wenn die Studenten feststellten, dass nach dem Studium keine gut bezahlten Jobs auf sie warteten? Wenn fallende Aktienkurse die Ersparnisse von Millionen vernichten würden? Wird es friedlich bleiben, oder wird der chinesische Hang zu Massenbewegungen neue Opfer fordern? Eigentlich, dachte Paul, bestand die Herrschaft der KPC aus nichts anderem als einer Folge von politischen Kampagnen. Der Feldzug gegen Rechtsabweichler. Der »GroÃe Sprung nach vorn«. Die Kulturrevolution. Danach lautete die Devise: »Werdet reich, Genossen«, und seitdem zählte nur noch Geld. Was könnte als Nächstes kommen?
Er lehnte sich an die Hauswand, schloss die Augen, dachte an Yin-Yin, Da Long und Min Fang und hatte plötzlich das Gefühl, einen Film ablaufen zu sehen: Später Abend . Da Long schiebt seine Frau in ihrem Krankenbett im Laufschritt durch die Zhapu Lu. Yin-Yin läuft nebenher und hält einen Tropf hoch. Ein paar Gäste blicken überrascht von ihren Tischen auf. Einige Passanten bleiben stehen, die meisten ignorieren sie. Sirenen heulen. Von allen Seiten kommen plötzlich Polizeiautos und Krankenwagen herangerast. Das Blaulicht wirft flackernde Schatten auf die Fassaden und die Gesichter der Menschen. Bremsen quietschen. Türen fliegen auf. Männer springen aus den Autos. Sie zerren Vater und Tochter fort. Yin-Yin zappelt, schreit und tritt nach ihnen. Es braucht mehrere Männer, um sie zu überwältigen. Für einen Moment steht das Bett mit Min Fang verlassen in der Mitte der StraÃe. Zwei Krankenpfleger übernehmen es in aller Ruhe. Sie rollen Min Fang in das Bordell gegenüber, schlieÃen die Tür und ziehen die Vorhänge zu. Die Einsatzwagen fahren davon. Die Menschen essen weiter. Die StraÃe sieht aus, als wäre nichts gewesen.
Paul öffnete die Augen und kam nur langsam wieder zu sich. Er hielt die Hände unter den Hahn neben sich, formte eine Mulde, lieà sie voll laufen und spritzte das kalte Wasser in sein Gesicht. Er hatte zu viel getrunken, aber selbst wenn er Gespenster sah - er war überzeugt, dass alles mit allem zusammenhing. Die jungen Frauen, die ihm zulächelten. Min Fang. Sanlitun. Die Feiernden um ihn herum. Der Porsche Cayenne an der Kreuzung. Er war zu erschöpft, um darüber gründlich nachzudenken. Er spürte den Alkohol und einen schmerzhaften Druck im Kopf. Er fühlte sich müde, unendlich müde, stand auf, legte fünfzig RMB auf den Tisch und machte sich auf den Weg ins Hotel.
In seinem Zimmer entdeckte er keine weiteren Anzeichen eines Eindringlings. Er legte die Sicherheitskette ins Schloss, lehnte eine Stehlampe so gegen die Tür, dass sie umkippen musste, sobald
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