Drachenspiele - Roman
gegessen. Er ging auf Min Fangs Bett zu, Da Long folgte ihm.
Sie sah noch abgemagerter aus als vor zehn Tagen. Ihr Mund war halb geöffnet, die Wangen eingefallen, der Kopf in den Nacken gelegt, als versuche sie mit aller Kraft, nach hinten zu schauen, ihr Blick starr an die Decke gerichtet. Unter der Bettdecke ragte ein Bein heraus, dürr und steif wie ein Stock, von dem faltige, verschrumpelte Haut hing. Paul spürte, wie ihm Tränen in die Augen drückten. Er hätte schreien mögen. Wie sollte er es bei diesem Anblick übers Herz bringen, Da Long von der Festnahme Yin-Yins und dem Preis ihrer Freilassung zu berichten?
»S-s-sie isst kaum noch etwas«, sagte Da Long und hielt sich am Bettgestell fest. »G-g-gestern hat sie sich wieder verschluckt und wäre mir fast unter den Händen erstickt. AuÃerdem liegt sie sich wund. Ich weià nicht, was ich machen soll.« Die Hilflosigkeit in seiner Stimme.
Er verschwand in der kleinen Küche und kam mit zwei Schüsseln zurück. Er deckte Teller und Stäbchen dazu, stellte Teetassen, eine Kanne und Gläser auf den Tisch. In einer Schale war eine Art Salat aus Tofuscheiben, geraspelter Melone, Gurke, grünen Bohnen und Sojakeimlingen, in der anderen kalte Nudeln mit einer scharfen Sesamsauce. Beides schmeckte vorzüglich, Paul verstand nicht, wie Da Long aus so wenig solche Köstlichkeiten zaubern konnte.
»Ich soll dich von Christine grüÃen«, erklärte Paul, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
Da Long sog an ein paar Nudeln, die mit einem laut schmatzenden Geräusch in seinen Mund verschwanden. »I-i-ich habe nicht erwartet, dich so schnell wiederzusehen.«
Die höfliche Version der Frage: Warum bist du hier?
Paul nippte am Tee, warf einen Blick über den Tisch. Da Long hockte über seinen Teller gebeugt und schaute ihn über seine Brille hinweg an. Er wartete auf eine Antwort, und Paul verlieÃen die Kräfte. Seine Hände fühlten sich taub an, er verspürte einen Hustenreiz, ohne husten zu können.
Da Long ahnte, dass etwas nicht stimmte. Er kaute langsam, und als sein Mund leer war, schob er den Teller in die Mitte des Tisches, lehnte sich zurück und wartete. Als Paul noch immer nichts sagte, fragte er: »H-h-hast du Yin-Yin in Shanghai gesehen? Ich habe seit mehreren Tagen nichts von ihr gehört.«
Paul wusste nicht, wohin mit sich. Er atmete tief ein, strich sich durch die Haare, rutschte im Stuhl hin und her, faltete die Hände auf dem Tisch, stützte sein Kinn darauf. Ihm war, als würde der Raum allmählich in der Dämmerung versinken.
»W-w-was ist?«, hörte er eine Stimme im Halbdunkel.
»Da Long, es tut mir leid â¦Â«
»Ist sie tot?«, unterbrach er ihn mit einem Zittern in der Stimme.
»Nein. Yin-Yin ist verhaftet worden.«
Da Long verschränkte die Arme vor der Brust, wippte leicht mit dem Oberkörper hin und her, sein Blick ging an Paul vorbei, verlor sich irgendwo im Zimmer. Die Zeit stand still. Paul hatte einen Ausbruch erwartet, einen Wutanfall, Hasstiraden, Hohngelächter, aber nicht diese Stille. Minutenlang saÃen sie sich schweigend gegenüber.
»S-s-sie ist verhaftet worden?«
»Ja.«
»Von wem?« Eine Stimme, die keine Gefühle verriet.
»Wahrscheinlich von der Polizei in Hangzhou oder Yiwu. Wir wissen es noch nicht genau.«
»Warum?«
»Sie hat im Internet einen Text über Min Fangs Krankheit und ihre Ursachen geschrieben. Sie hat von unseren Recherchen berichtet. Sie hat Namen genannt. Sie hat gefordert, dass die Schuldigen bestraft werden.«
»Hast du davon gewusst?«
»Ja«, antwortete Paul und beobachtete ihn genau. Sein Gesicht nahm maskenhafte Züge an, es zeigte keinerlei Regung, die dunkelbraunen Augen fixierten etwas in der Ferne, ohne zu flackern. Selbst die vollen Lippen hatten sich nicht zu einem Strich verengt. Er wirkte, als hätte er sich an einen fernen Ort zurückgezogen, an dem ihn gerade noch Pauls Stimme erreichte, jedoch nicht mehr die Bedeutung des Gesagten.
»Wer wusste noch davon?«
»Niemand, soviel ich weiÃ.«
»Womit drohen sie ihr?«
Selbst bei dieser Frage klangen keine Emotionen durch. Wenn er doch nur schreien würde, dachte Paul. Oder vor Empörung aufspringen, um sich treten, auf den Tisch schlagen, weinen, alles wäre besser als diese grauenhafte Starre.
»Offiziell noch gar
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