Drachenspiele - Roman
Geschichte hören, je mehr Einzelheiten, desto besser. Wenigstens im Rückblick wollte er das Geschehene mit ihr teilen, weil er hoffte, seiner Schwester auf diese Weise etwas abnehmen zu können.
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Sie konnte nichts abgeben. So weit war sie noch nicht. Noch lange nicht. Sie betrachtete alles aus einer sicheren Distanz: Ihren Bruder. Johann Sebastian Weidenfeller, von dem sie sich gleich nach ihrer Freilassung getrennt hatte. Ihre Wohnung. Ihre Violine. Die Symphoniker. Selbst Mozart, Beethoven, Schubert.
Einmal hatte sie sich herausgewagt oder war herausgetrieben worden aus ihrem Versteck - als sie die Ãberreste ihrer Eltern verstreuten. Ein Häuflein grauer Asche. Unfassbar. Als sie am Strand standen, auf das graubraune Ostchinesische Meer blickten, die Urne öffneten. Ein Moment der Schwäche. Als sie sah, wie ein Teil ins Wasser rieselte und sich dort auflöste, wie der Wind den Rest in die Luft hob, forttrug und für immer in alle Himmelsrichtungen verteilte.
Da hatte sie den Kopf auf die Schulter ihres Bruders gelegt und geweint. Kein Ausbruch, ein paar Tränen nur, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Das hatte sie in den fünf Wochen ihrer Gefangenschaft gelernt. Beherrschung, nicht die Kontrolle zu verlieren.
In den ersten Tagen hatten die Verhöre fast zwanzig Stunden gedauert. Ein Kellerraum, kalt und unheimlich, lange Flure, düstere Gesichter. Woher haben Sie Ihre Informationen?
Wer hat Sie angestiftet? Gehören Sie zu einer Organisation? Was hat Ihr Vater vor? Wer hilft ihm? Bekommen Sie Geld aus dem Ausland? Immer dieselben Fragen, immer dieselben Antworten. Man hatte ihr nicht offen mit Gewalt gedroht, sondern versucht, sie mit Anspielungen und Halbsätzen unter Druck zu setzen. Sie sind noch so jung, warum zerstören Sie Ihr Leben? Nie mehr öffentlich auftreten können ⦠kein Orchester wird bereit sein. ⦠Denken Sie an Ihre Familie. Wer wird sich um Ihre Mutter kümmern, wenn Ihrem Vater etwas zustöÃt? Sie hörte kaum Vorwürfe, gegen die sie sich zumindest hätte verteidigen können, nur Fragen, Fragen, Fragen. Offenbar glaubte man, sie auf diese Art zermürben zu können.
Dann, von einem Tag auf den anderen, verlor man das Interesse an ihr. Brachte sie in ein anderes Gebäude, eine Art Gästehaus eines Betriebes oder einer Bezirksregierung, sperrte sie in den sechsten Stock, postierte Wachmänner vor ihrer Tür, die dreimal am Tag Mahlzeiten brachten und kein Wort sprachen. Ein winziges Zimmer mit Bett, zwei Stühlen und einem Schrank. Einmal die Woche wurde die Wäsche gewechselt. Aus dem kleinen, mit einem Schloss verriegelten Fenster blickte sie auf brachliegende Felder, in der Ferne konnte sie Fabriken und Häuser ausmachen.
Das Quälende war die Ungewissheit. Und die Hilflosigkeit. Eine Gefangenschaft ohne Anschuldigungen. Was genau sollte sie verbrochen haben? Wie lange musste sie in diesem Zimmer leben? Tage? Wochen? Monate? Wer war verantwortlich? Was hatten sie mit ihr vor? Würden diesem komfortablen Gefängnis Jahre in einem Arbeitslager folgen? Wann würde sie endlich ihre Eltern und ihren Bruder wiedersehen? Sie nahmen ihr die Macht über ihr Leben, und das konnte sie nur mit äuÃerster Disziplin ertragen. Die innere Beteiligung
war auf das Notwendigste zu reduzieren. Eine Art Winterschlaf der Seele - ganz erwacht war sie bis heute nicht.
»Rufst du mich an, wenn es dir nicht gut geht?«, unterbrach Xiao Hu ihre Erinnerungen.
Sie nickte.
»Falls du Hilfe brauchst?«
»Ja.«
»Wenn du möchtest, komme ich dich besuchen.« Als ahne er, dass sie lange wegbleiben könnte. »Ich habe ja jetzt Zeit.«
»Ich weiÃ, danke.« Es tat ihr leid, dass sie ihn nicht wirklich teilhaben lassen konnte. Sie verdankte ihm ihre Freilassung, und sie war stolz auf ihn. Er hatte, das musste man im Nachhinein sagen, alles riskiert, und es war nur so unzuverlässigen Verbündeten wie Glück, Zufall und der politischen Gunst der Stunde zu verdanken, dass er nicht ebenfalls verhaftet wurde, dass sie nicht beide in einem Arbeitslager oder der Psychiatrie verschwunden waren. Kurz nach ihrer Freilassung hatte Xiao Hu bei China Life gekündigt; er brauche, wie sie, eine Pause, hatte er seiner Schwester erklärt, wusste jedoch im Gegensatz zu ihr noch nicht genau, was er mit seiner Zeit anfangen sollte.
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