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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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und die hohen Wangenknochen, wie sie für die Nordchinesen typisch sind. Ihre Arme waren auffallend lang und kräftig. Sie trug eine enge Jeans und ein grünes, mit chinesischen Schriftzeichen bedrucktes T-Shirt. Das Haar hatte sie hochgesteckt, in den Ohren glänzten zwei kleine Edelsteine.
    Nur die Augen irritierten Christine. In ihnen lag ein langer Schatten, und je länger sie sich anblickten, desto mehr fühlte sie sich an das Foto ihres Bruders erinnert. Yin-Yin sagte etwas, Christine hörte kaum hin. Das Gefühl, ein altes Schwarzweiß-Bild hätte sprechen gelernt.

V
    Jedes Unglück schickt seine Boten voraus. Wir müssen nur achtsam sein und sie erkennen. Sie täuschen uns gern und kommen oft in fremden Gewändern. Mich haben sie überlistet.
    Es begann mit meinem rechten Daumen. Er war plötzlich weg. Ich hatte mich nach der Nudelsuppe mittags für ein paar Minuten hingelegt, und als ich aufwachte, war er nicht mehr da. Das heißt, ich sah ihn noch, aber ich spürte ihn nicht mehr. Er bewegte sich nicht. Ich kniff hinein und fühlte keinen Schmerz. Ein paar Stunden später waren auch Zeige- und Ringfinger verschwunden. Am Abend waren sie wieder da.
    Ich hatte darüber nicht weiter nachgedacht, als mir am nächsten Morgen die Teetasse entglitt. Sie rutschte mir aus der Hand, ich schaute zu und konnte nichts dagegen tun. Die Knöpfe meiner Jacke. Sie wollten nicht durch die Löcher, durch die sie sich sonst täglich zwängten. Die Dosen, gefüllt mit Tee, Kräutern oder Gewürzen, in der Küche. Ich konnte sie nicht aufschrauben. Die Finger meiner beiden Hände, diese sehnigen, knochigen Glieder, die mir seit Jahrzehnten so zuverlässig gute Dienste erwiesen hatten, waren plötzlich von einer geheimnisvollen Taubheit befallen.
    Der Wechsel der Jahreszeiten, dachte ich. Der Winter war lang und kalt und feucht gewesen und mir tief in die Knochen gekrochen, der kurze Frühling von einem Tag auf den anderen über uns hereingebrochen. Die Müdigkeit, die Erschöpfung. Die Schmerzen in den Gliedern. Der Frühling, was sonst. Ich wollte all dem keine zu große Bedeutung beimessen mit meinen achtundfünfzig Jahren.
    Nicht mehr jung.
    Noch nicht alt.
    Aber ein leidensfähiges Alter.

    Zwei Tage später konnte ich die Reisschale nicht heben. Ich konnte die Stäbchen nicht halten. Ich fühlte mich hilflos, wie ein Kind, und behauptete, keinen Hunger zu haben.
    Dann begann die Erde zu schwanken. Die gerade noch ebene Gasse durch das Dorf fiel mal zur linken, mal zur rechten Seite ab. Der Weg über den Hof war voller Kuhlen und Hügel. Ich ging nicht mehr, ich wankte durch den Ort wie ein Betrunkener.
    Ich, die nie still sitzen konnte, die immer etwas entdeckte, was getan werden musste, was erledigt werden wollte, der es dabei kaum schnell genug gehen konnte, benahm mich, als hätte ich die Langsamkeit entdeckt. Alles an mir wurde von einer entsetzlichen Trägheit erfasst. Meine Bewegungen. Mein Gang. Meine Rede. Wenn ich sprach, klang es, als wäre ich gerade viele Treppen emporgestiegen und dabei gänzlich außer Atem geraten. Ich ... weiß... nicht,.... was... mit... mir... los... ist. Ich verschluckte Laute und dehnte andere unnötig lang. Mmmöchtessst... dddu ... Tttofffu... zuuum... Aaabendddessennn? Ich hörte mich sprechen und schämte mich. Mein Körper, dem ich in meinem Leben nie große Beachtung geschenkt habe, auf den ich mich immer verlassen konnte, ließ mich im Stich.
    Am folgenden Tag wurde Chouchou verrückt. Unser großer, schwarzer Kater, der seit zehn Jahren treu bei uns lebt. Er stand vor dem Haus, machte einen Buckel, zuckte plötzlich mit den Beinen, warf sein Hinterteil in die Höhe und wollte auf den Vorderpfoten stehen. Er versuchte einen Katzenhandstand! Chouchou, mein Ärmster, was ist los mit dir? Was machst du da? Er reagierte nicht auf meine Stimme, fiel vornüber, blieb auf der Erde liegen, strampelte mit den Beinen, als wäre der Teufel in ihn gefahren. Ich fürchtete, er sei tollwütig geworden, und traute mich nicht, ihn zu berühren. Nach einer Minute sprang er auf und fing an, im Hof herumzurennen. Er jagte im Kreis, verfolgt von einem Dämonen oder unsichtbaren Geist, was sonst
sollte ihn in eine solche Angst versetzen. Er hörte gar nicht auf, veränderte seine Richtung, schlug Haken wie ein Hase und lief irgendwann mit ganzer Wucht gegen

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