Drachenspiele - Roman
Fall Hoffnung auf Besserung zu machen. Er will versuchen, ein Krankenhaus oder eine Art Heim zu finden, in
dem sie bleiben kann. Mit seinen Beziehungen in der Partei könnte das sogar möglich sein. Papa will davon nichts wissen. Ich glaube, als Xiao Hu keine Ruhe gab, hat er ihn rausgeschmissen. Seitdem reden sie wieder nicht mehr miteinander.«
»Und du? Auf welcher Seite stehst du?«
Yin-Yin warf ihrer Tante einen verständnislosen Blick zu. »Auf der meines Vaters natürlich.«
»Du glaubst, dass sich deine Mutter wieder erholen wird?«, fragte Paul erstaunt.
»Das weià ich nicht. Ich bin keine Ãrztin. Aber wenn mein Vater sie zu Hause pflegen will, dann müssen wir das akzeptieren und ihm dabei helfen. Ich bin seine Tochter, für mich zählen seine Wünsche. Nach einem zweiten Vorspiel bei den Symphonikern werde ich mir freinehmen und für mindestens drei Monate zurück ins Dorf ziehen, um ihm zu helfen.« Sie schaute auf die Uhr. »Hier gibt es nicht mehr viel zu sehen. Ich glaube, wir können uns auf den Rückweg machen.«
Da Long wartete vor dem Haus. Er saà im Schatten auf einer Bank und rauchte. Paul hockte sich zu ihm. Eine fette, graue Ratte huschte über den Hof. Da Long blickte ihr nach, bis sie unter dem Holzstapel verschwunden war. »Seit die Katzen tot sind, plagen uns die Ratten wieder«, sagte er.
»Wieso sind die Katzen tot?«, fragte Paul verwundert.
»Weià ich nicht. Wir hatten ein Dutzend Katzen im Dorf. Sie sind alle in den vergangenen Monaten gestorben. Unsere ist in den Brunnen gefallen und ertrunken. Andere bekamen Krämpfe und verreckten mit Schaum vor dem Mund. Wahrscheinlich ein Virus oder die Tollwut. Wer soll das herausfinden? Unser Nachbar hat die Polizei angerufen. Sie seien nicht zuständig, erklärten sie. Dann hat es jemand dem Gesundheitsamt gemeldet. Die gleiche Antwort. Es kümmert sich niemand. Katzen. Wen interessieren unsere Katzen?«
Sie gingen ins Haus. Da Long hatte eine Nudelsuppe mit Huhn und gefüllte Teigtaschen vorbereitet. Sie saÃen um den Tisch und begannen zu essen, ohne ein Wort zu wechseln. Christine war das Schweigen unangenehm. Hatten sie sich nach vierzig Jahren nichts zu sagen? Sie wollte den Anfang machen und begann, ihr Leben in Hongkong zu schildern. Sie erzählte von den ersten Jahren nach der Flucht, von den neuneinhalb Quadratmetern im Lower Ngau Tau Kok Estate. Von Mamas Arbeit als Näherin. Nicht von ungeweinten Tränen. Nicht von ungesagten Sätzen. Auch nicht von Männern in kurzen, blauen Hosen, auf denen man jeden Flecken sah, besonders die weiÃen.
Ihr Bruder hörte zu, schlürfend, schmatzend. Ohne Fragen zu stellen. Sie war nicht sicher, ob er mit seinen Gedanken bei ihr war. Sie erzählte von ihrem Tourismus-Studium in Vancouver, von ihrem Sohn Josh, ihrer Hochzeit und dem Scheitern ihrer Ehe. Er aà weiter, nickte zuweilen, spuckte ein Stück Knorpel auf den Tisch, wendete sich einmal kurz ab, um sich laut die Nase zu schnäuzen. Christine beobachtete ihn. Ein kleiner, älterer Mann, über seine Suppe gebeugt, versunken in seiner eigenen, kleinen Welt. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr der Bruder zum zweiten Mal genommen. Sie teilten nichts. Keine Wurzeln. Keine Erinnerungen. Keine Sorge um die Eltern. Sie sprachen nicht einmal dieselbe Sprache. Es gab kein Damals. Nicht mit ihm. Jetzt ist Jetzt, und auf dieses Jetzt hätte sie gern verzichtet.
Sie wartete. Sie wartete, dass er von sich aus etwas erzählen, dass er eine Frage stellen, dass er Interesse zeigen würde. Aber Da Long gähnte, schwieg, pulte mit einem hölzernen Zahnstocher zwischen den Zähnen.
Sie überlegte, ob sie ihn einfach etwas fragen sollte: Wo hast du Min Fang kennen gelernt? Wie bist du zurück in die
Stadt gekommen? Was hast du gelernt, was gearbeitet? Wollte er gefragt werden, oder mochte er sein Leben womöglich gar nicht mit ihr teilen? In seinem Brief hatte er in den ersten Zeilen einen vertrauten Ton angeschlagen, wo war der geblieben? Die Erinnerung, wie sie an seinen Händen laufen gelernt hatte, ein Trick, um sie zu rühren? War sie nur in der Hoffnung herbestellt worden, sie könne etwas für seine kranke Frau tun, und jetzt, da sich das als Irrtum herausgestellt hatte, sollte sie wieder gehen, je früher, umso besser? Je länger sie schwiegen, desto ärgerlicher wurde sie.
»Warum hast du
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