Drachenspiele - Roman
über Violinkonzerte von Brahms, von Bruch und Mendelssohn, Namen, die Christine nichts sagten, über chinesische Komponisten, die auch Paul nicht kannte. Da Long stand auf, holte eine Mundharmonika und spielte etwas. Er schloss die Augen dabei, seine Wangen blähten sich, der Kopf neigte sich im Rhythmus, Paul spendete Beifall. Es war das erste Mal, dass sie Yin-Yin und ihren Bruder lachen sah. Christine lachte nicht. Sie verstand kein Wort des Mandarin und wollte
Paul nicht alle paar Sätze um eine Ãbersetzung bitten. Ihre Gedanken entglitten ihr wie einem Einschlafenden, kurz bevor ihm die Augen zufallen. Sie hatte das Gefühl, nicht dazuzugehören, zwar mit am Tisch zu sitzen, aber doch durch eine unsichtbare Wand von den anderen getrennt zu sein. Sie konnte es kaum erwarten, bis das Taxi kam, das sie zum Hotel bringen sollte.
Im Wagen merkte sie, wie sehr die vergangenen Stunden sie angestrengt hatten. Ihr Kopf schmerzte, ihre Schultern waren so hart, dass schon Pauls zaghafte Versuche, sie zu massieren, wehtaten. Sie lehnte sich an seine Schulter, er nahm sie in den Arm. Sie hoffte, er würde etwas sagen, ihr ein paar seiner Fragen stellen, die helfen könnten, Ordnung in ihre Gedanken und Gefühle zu bekommen.
Nach wenigen Minuten hatten sie den Stadtrand von Yiwu erreicht, kamen aber nur noch im Schritttempo voran, weil Kolonnen von Lastwagen die StraÃe verstopften. Auf der Gegenfahrbahn sah es nicht anders aus. Eine Karawane von gelben, roten, blauen, grünen und braunen Containern, die in beiden Richtungen durch das Land zog.
»Von allem etwas?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie die Anspielung verstand. Auch für solche Sätze liebte sie ihn.
»Von allem etwas. Ich wünschte, es wäre so einfach. Ich weià nicht, was ich denken soll.«
»Wollte ich auch nicht wissen.«
»Sondern?«, fragte sie verwirrt.
»Wie du dich fühlst.«
»Ach Paul«, seufzte sie. »Wie lange kennst du mich jetzt?« Christine schloss die Augen. Sie war es nicht gewohnt, Fragen, wie er sie stellte, zu beantworten. Bevor sie ihn traf, hatte in ihrem Leben weder sie noch sonst jemand allzu oft
wissen wollen, wie sie sich fühlte. Sie hatte geglaubt, das wäre eine Frage für Menschen, die zu viel Zeit besaÃen, nicht eine für Frauen, die ein Kind allein erziehen, ein Reisebüro führen, eine Mutter versorgen mussten, und die abends vor dem Fernseher vor Erschöpfung einschliefen. Selbstreflexionen waren nicht etwas, das ihr in ihren Alltagssorgen weiterhalf. Paul war ganz anderer Meinung, und er würde sich jetzt nicht mit einer Floskel zufrieden geben. »Wie ich mich fühle?«, wiederholte sie. »Leer. Kraftlos. Ein wenig wie betäubt. Kannst du das verstehen?«
»Alles andere hätte ich nicht verstanden.«
Sie hob den Kopf. Sie dachte an Min Fang, und ihr lief ein Schauer über den Rücken.
»Ist dir kalt?«
»Nein. Ich muss an meine Schwägerin denken. Furchtbar. Sie sah nicht so aus, als ob ihr irgendjemand helfen könnte. Oder?«
»Nein, aber ich kann deinen Bruder verstehen. Ein liebendes Herz gibt niemals auf. Er hat Recht.«
Christine überlegte kurz, ob sie widersprechen sollte, schwieg aber lieber.
»Ich mag ihn«, sagte Paul. »Und du?«
Christine dachte lange nach. »Ich weià es nicht. Auf jeden Fall tut er mir leid.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Es gab Momente, da hatte ich den Eindruck, du würdest einen Freund besuchen und ich dich begleiten, nicht umgekehrt.«
»Warum?«, fragte er überrascht.
»Ist dir nicht aufgefallen, wie selten er mich angeschaut hat?«
»Doch. Aber das ist oft so, wenn man durch einen Ãbersetzer miteinander spricht.«
»Ich kann mich an keine einzige Frage erinnern, die er mir gestellt hätte. Du?«
»Nein.«
»Er hat sich nicht einmal nach unserer Mutter erkundigt.«
»Er hat andere Sorgen.«
»Das stimmt. Er war mir trotzdem sehr fremd. Ich kann nicht behaupten, dass ich das Gefühl habe, heute meinen lang vermissten Bruder wiedergefunden zu haben. Ist das schlimm?«
Paul beugte sich vor und lächelte sie an: »Was möchtest du von mir hören?«
»Dass es nicht schlimm ist. Dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss.«
»Hast du das?«
»Ein bisschen.«
»Hätte ich auch.«
Christine zuckte zusammen:
Weitere Kostenlose Bücher