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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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nicht früher versucht, Mama und mich zu finden?«
    Eine schwierige Frage. Warum hast du nicht? In den meisten Fällen, in denen wir sie stellen, könnten wir sie auch an uns selber richten: Warum habe ich nicht? Aber Da Long versuchte nicht, sie auf diese Weise abzuwehren: »E-e-es waren schwierige Zeiten«, antwortete er. »Gefährliche Zeiten. Es war bedrohlich, Verwandte in Hongkong oder überhaupt im Ausland zu haben. Viele mussten dafür ins Gefängnis. Oder ins Arbeitslager. Weil ein paar Verrückte in ihrer Familie nach Hongkong geschwommen waren. Was konnten sie dafür? Aber so war es damals. Man hätte mich leicht zum Staatsfeind oder Konterrevolutionär erklären können. Als mir die Partei mitteilte, dass ihr nach Hongkong geflohen seid, musste ich einen fünfseitigen Brief aufsetzen, in dem ich euch denunzierte: Verräter, bourgeoises Gesindel, Klassenfeinde habe ich euch beschimpft und mich für immer von Mama und dir, diesem elenden Pack, wie ich euch nannte, losgesagt.«
    Â»Seither ist viel Zeit vergangen.« Mit welchem Recht machte sie ihm Vorwürfe?
    Â»Das stimmt.« Er schwieg. Christine wusste nicht, ob ihm das Gespräch nun doch unangenehm war, oder ob er nachdachte,
selbst nach einer Erklärung suchte. »Wir waren zu beschäftigt mit unserem eigenen Leben. Wir sind von Sichuan an die Küste gezogen, kurz darauf in dieses Dorf. Die Kinder mussten sich zweimal an eine neue Umgebung gewöhnen, wir an unsere neue Arbeit. Min Fang gab ein paar kleinere Konzerte, die Zeit ging dahin, und bevor man es gemerkt hatte, war wieder ein Jahr vergangen, du weißt, wie das ist. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wo ich suchen sollte. Ich habe lange geglaubt, ihr wärt von Hongkong weiter nach Australien oder Amerika ausgewandert.« Er schaute Paul an und dann seine Schwester, als wolle er sich vergewissern, dass seine Worte sie auch erreichten.
    In seinen Augen sah sie die Frage, die sie nicht hören wollte: Und ihr? Habt ihr versucht mich zu finden?
    Â»Uns ging es ähnlich«, behauptete Christine. »Wir waren fest davon überzeugt, du hättest die Kulturrevolution nicht überlebt. Mama hat alles versucht, sie ist mit ihren Nachforschungen nicht weit gekommen.«
    Paul übersetzte. Als seine Stimme langsam verklang, blickten sich Bruder und Schwester zum ersten Mal lange an. Sie sagte nicht die Wahrheit, oder nur einen Teil davon, und sie vermutete, bei ihm war es nicht anders. Sie wussten voneinander, dass sie logen, und benötigten einander, um sich gegenseitig freizusprechen. So, dachte Christine, entstehen Geheimnisse, die von einer Generation zur nächsten weitergetragen werden. So vergraben Familien ihre Dämonen. Mit ungesagten Sätzen, Halbwahrheiten, mit ungelebter Trauer. Bis sie auferstehen. Größer, lebendiger, mächtiger. Damals ist Heute. Heute ist Damals.
    In Wirklichkeit hatte sie mit ihrer Mutter seit der Kindheit nicht mehr über ihren Bruder gesprochen. Selbst in ihren neuneinhalb Quadratmetern, mit seinem Foto unter einem
Kopfkissen, konnte sie sich an kein längeres Gespräch über Da Long erinnern. Weshalb nicht? Warum hatte die Mutter nicht versucht, den Sohn zu finden? Warum war sie davon ausgegangen, dass Da Long in den Wirren der Kulturrevolution ums Leben gekommen war? Besaß sie Hinweise, Indizien, Zeugen, von denen Christine nichts wusste? Warum schweigt man fast vierzig Jahre über einen Menschen? Weil man nicht an ihn erinnert werden möchte. Weil der Schmerz nicht zu ertragen ist. Der des Verlusts? Oder ein anderer? Auch sie selbst hatte nicht nach ihm gefragt oder gar gesucht. Sie hatte sich eingerichtet in der neuen Stadt, in ihrem Leben ohne Bruder.
    Es waren verstörende Gedanken, die in ihr aufstiegen. Gab es etwas, das die Mutter und Da Long teilten und wovon sie nichts wusste? Sie könnte ihn fragen, traute sich jedoch nicht, das anzusprechen. Nicht hier, nicht heute. Sie musste zunächst mit ihrer Mutter darüber reden.
    Paul durchbrach die Stille, er fragte nach der Musik, die sie im Hintergrund hörten; das interessierte sie nicht, aber seine Stimme tat ihr gut. Mozart, Violinsonaten. Eine Amateuraufnahme des Konservatoriums mit Yin-Yin an der Violine. Da Long war fest überzeugt, dass das seiner Frau gut tun würde. Mochten die Ärzte behaupten, was sie wollten. Paul lobte Yin-Yins Spiel, und sie begannen, über Musik zu reden,

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