Drachenspiele - Roman
gegangen waren. DreiÃig Jahre war das her, mindestens. Paul erinnerte weder den Namen der Zeitschrift noch den Ort der Handlung, auch nicht, was es mit den verendeten Tieren auf sich hatte. Nur das Bild einer Katze, die am helllichten Tag sehenden Auges mit Anlauf gegen eine Wand rennt, war in ihm haften geblieben. Er stand auf, tastete sich zum Stuhl, nahm seine Sachen, verschwand im Bad, zog sich an und fuhr hinunter in die Lobby. Dort war noch erstaunlich viel Betrieb. Drei Damen an der Rezeption kümmerten sich um ankommende Gäste, eine Gruppe von Geschäftsleuten diskutierte, in welche Sauna man jetzt gehen sollte, auf einem Sofa saÃen zwei Frauen in kurzen Röcken, die Paul genau musterten.
Der Concierge bedauerte, das Business Center wäre geschlossen und erst ab sieben Uhr wieder geöffnet. Eine Massage könne er haben, die gäbe es rund um die Uhr. Computer mit Internetzugang fände er in jedem Zimmer, dafür müsse er nicht ins Business Center. Aber Paul wollte Christine nicht wecken. Nach einer kurzen Diskussion und einem Trinkgeld von 50 Yuan saà er wenig später im leeren Büro des stellvertretenden Managers vor einem Computer und
gab verschiedene Suchbegriffe ein. Katzenwahnsinn. Katzenkrankheiten. Katzen und Gesundheit. Katzen und Tollwut. Er versuchte eine chinesische Suchmaschine, fand Interessantes zu den Themen Katzenhandel und Katzenzucht, auÃerdem die besten Katzenrezepte aus der Provinz Guangdong, aber nichts, was ihm weiterhalf. Er wechselte zu Google und bekam Millionen von Fundstellen angezeigt. Er fand einige vage Spuren, ein paar Puzzleteile, die aber zusammengenommen noch keinen Sinn ergaben. Je länger er suchte, desto sicherer war er, dass in diesem Labyrinth von Informationen irgendwo die Antwort auf die Frage versteckt liegen musste, warum ein paar Tage genügten, um eine gesunde Frau Ende fünfzig in ein gelähmtes, blindes und stummes Wesen zu verwandeln. Paul tippte immer heftiger auf die Tastatur, wartete ungeduldig, bis sich die Seiten aufbauten, und lieà sie schnell wieder verschwinden. Eine richtige Webseite, das eine entscheidende Dokument, würde genügen. Wenn er sich doch nur an die Stadt erinnern könnte, in der sich die Geschichte damals zugetragen hatte. Er war nicht selbst vor Ort gewesen, hatte nur telefonisch recherchiert, sich Dinge erzählen lassen und anschlieÃend aus Archivmaterial einen Artikel zusammengeschrieben, aber die Geschichte nicht weiterverfolgt und sie irgendwann ganz vergessen. Verärgert und frustriert gab er nach zwei Stunden auf. Vielleicht täuschte er sich auch. Vielleicht hatten die Ãrzte Recht. Ein schwerer Schlaganfall. Hoffnungslos. Selbst wenn er etwas fände, was sollten dem Irrsinn anheimfallende Katzen mit der gelähmten, blinden und stummen Min Fang zu tun haben?
Er ging zurück aufs Zimmer, Christine schlief auf seiner Seite des Bettes, halb zugedeckt und zusammengerollt wie ein Kind. Er war erschöpft, aber nicht müde, im Gegenteil, ihn erfüllte eine solche innere Unruhe, dass an Schlaf gar
nicht zu denken war. Er öffnete die Vorhänge einen Spalt und stellte sich ans Fenster. Die StraÃen waren leer, es hatte zu regnen begonnen, die weiÃen, roten und gelben Neonlichter spiegelten sich in den Pfützen auf den StraÃen und Dächern, Wassertropfen schlugen an die Scheibe und rannen in wild geschwungenen Linien das Glas hinunter. In gut einer Stunde würde die Sonne aufgehen.
Paul dachte an Da Long. Christines Bruder hatte ihn vom ersten Moment an gerührt. Seine Unbeholfenheit. Sein verlegenes Lächeln beim Anblick der Schwester. Die formelle BegrüÃung. Die Art, wie er bei den ersten Sätzen jedes Mal die Anfangslaute wiederholte. Das Schüchterne in seinem Auftreten. Entweder war er nicht in der Lage, oder er hatte kein Interesse daran, seine Unsicherheit zu überspielen.
Paul dachte an den lauten, keuchenden Atem der Kranken, ihren stummen Blick an die Decke, ihren erstarrten Körper. Er dachte an kleine, bunte Gummistiefel im Flur seines Hauses auf Lamma. Die Regenjacke an der Garderobe. Die allmählich verbleichenden Striche am Türrahmen, die das Wachstum seines Kindes markierten. Die Macht der Erinnerung. Sie verursachte physische Schmerzen, die sich in Wellen durch seinen ganzen Körper zogen. Es war Wochen, vielleicht Monate her, dass es ihm derart wehgetan hatte. Es kam in Schüben, ausgelöst durch
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