Drachenspiele - Roman
einen Gedanken, Wortfetzen, den Anblick eines Spielzeuges, eines Kindes oder einer Kranken. Es kam ohne Ankündigung und mit aller Wucht, und es würde nicht aufhören. Das war gut so. Der niemals endende Schmerz des Verlusts. Der Preis des Lebens.
Da Longs dunkelbraune, tief liegende Augen. Ihre Blicke waren sich während des Ãbersetzens häufig begegnet, waren aneinander haften geblieben, hatten sich gemustert und erforscht.
Was mochte in ihm vorgegangen sein, als er erfuhr, dass seine Schwester nicht in der Lage war, ihm zu helfen? Verfluchte er den Moment, in dem er sie um Hilfe angeschrieben hatte? Es musste ihn viel Ãberwindung gekostet haben, nach fast vierzig Jahren. Was hatte ihn, was hatte seine Mutter so lange Zeit davon abgehalten, nacheinander zu suchen? Seine Erklärung war ebenso fadenscheinig wie die seiner Schwester. Es gab keine Familien ohne Geheimnisse.
Ein liebendes Herz gibt niemals auf. Ein liebendes Herz akzeptiert den Tod nicht. Er kannte Christine, in ihren Ohren müssen die Worte ihres Bruders unerträglich kitschig und trivial geklungen haben, in seinen nicht. Wer einmal am Bett eines geliebten sterbenden Menschen gesessen hatte, wusste, dass manche Wahrheiten so einfach sind, dass man sie kaum auszusprechen wagt - und viel zu schnell wieder vergisst.
Ihn überkam eine unendliche Sehnsucht nach Christine. Er zog sich eilig aus, legte sich zu ihr, schmiegte sich an ihren Rücken, schob vorsichtig eine Hand unter ihre Brust, und nach einigen Minuten half ihm die Wärme ihres Körpers in den Schlaf.
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Yin-Yin holte sie vom Dorfplatz ab. Sie machte einen verzagten Eindruck, begrüÃte sie mit wenigen Worten, ohne ihnen in die Augen zu schauen, und führte sie schweigend durch das Dorf zum Hof.
Im Haus herrschte eine bedrückte Stimmung. Da Long war noch stiller als am Tag zuvor. Auch er schien eine schlaflose Nacht hinter sich zu haben, die Falten im Gesicht waren tiefer, die Augen kleiner, er wirkte unruhig und fahrig. Hin und wieder gab Min Fang ein lautes Stöhnen von sich. Dann sprang Da Long sofort auf und eilte zu ihr. Aber selbst wenn es ruhig war, stand er alle paar Minuten vom Tisch auf, ging
zum Bett, setzte sich, sprach zu ihr, befeuchtete ihr die Lippen und das Gesicht, stellte die Musik lauter, stellte sie leiser.
»Ist in der Nacht etwas geschehen? Geht es ihr schlechter?«, erkundigte sich Paul.
»Nein, aber mein Vater ist sehr aufgebracht«, erklärte Yin-Yin.
»Warum?«
»Mein Bruder hat gestern Abend noch angerufen. Er hat in Shanghai einen Arzt, einen Neurologen, gesprochen, der kommt am Dienstag und will meine Mutter noch einmal untersuchen.«
»Das ist doch gut«, sagte Christine.
»Papa möchte es nicht. Er hat Angst, dass das nur ein Weg meines Bruders ist, weiter Druck auf ihn auszuüben. Noch ein Arzt, der sagt, es gäbe keine Hoffnung. Noch eine Stimme, die behauptet, ein Pflegeheim wäre das Beste für meine Mutter.«
»Wenn es ein Spezialist ist, kann er unter Umständen helfen«, wandte Paul ein.
»Vielleicht. Deshalb hat Papa auch eingewilligt. Aber er traut ihm nicht.«
Da Long kehrte an den Tisch zurück und setzte sich zu ihnen. Er trommelte mit den Fingern auf dem Holz, sein Blick wanderte von Paul zu Christine und wieder zurück, als frage er sich, was die beiden Fremden in seinem Haus zu suchen hätten.
»Da Long, wäre es dir eine Hilfe, wenn ich am Dienstag beim Besuch des Arztes dabei bin?« Paul war selbst überrascht von seinen Worten. Sie waren einfach aus ihm herausgekommen, ohne dass er darüber nachgedacht hatte. Er wollte diesen hoffenden, verzweifelten Menschen nicht allein lassen mit
einem fremden Arzt. Er wusste, wie das war. Er kannte die Hilflosigkeit, die Ãberforderung. Er dachte an all die Gespräche, die er mit Ãrzten geführt hatte. Gab es keine Zweifel an der Diagnose Leukämie? Was schlugen die Onkologen vor? Welche Nebenwirkungen würde die Chemotherapie haben? Die Ãrzte beantworteten geduldig alle ihre Fragen, Paul folgte ihren Ausführungen konzentriert, und bereits Stunden später war er nicht mehr sicher, ob er alles richtig erinnerte. Er begann die Gespräche mitzuschreiben, und seine Frau und er nahmen sich vor, niemals eine Unterredung mit Doktoren allein zu führen. Vier Ohren hören mehr, vier Augen sehen mehr als zwei, hatte er zu Meredith immer gesagt.
Christine bemerkte das
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