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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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damit ein Volkstribunal ihn richten kann. Jeder Klassenfeind bekommt die Strafe, die er verdient.
    Im Erdgeschoss ist es angenehm kühl und dunkel. Im Flur lehnen Fahrräder an der Wand, unter der Treppe steht eine Schubkarre mit Kohleresten, am Ende des Gangs sieht er die Tür zum Hof. Sie ist offen, durch sie fällt Licht in den Flur. Er kennt diesen Flur. Er kennt ihn wie keinen anderen. Er geht in Richtung Hof. Mit vorsichtigen, kurzen Schritten. Er geht weiter und bleibt im Türrahmen stehen. Er hört noch immer die Stimmen aus dem obersten Stockwerk. Sie füllen das ganze Haus. Sie füllen den ganzen Hof. Sie füllen den ganzen Körper. Aber sie beruhigen ihn auch, weil sie ihm beweisen, dass er nicht allein ist.
    Dann wird es still. Und noch viel stiller. Ein kurzer Luftzug, der etwas Unheilvolles ankündigt. Ein dumpfer Aufprall. Im Hof, direkt vor seinen Füßen, liegt ein Mensch. Seltsam verdreht. Aus dem Mund rinnt eine dunkelrote Flüssigkeit, die über die Steine fließt und in der nächsten Fuge versickert. Es ist ein Mann. Es ist sein Vater.
    Einer von zwölf Feinden der Großen Proletarischen Kulturrevolution, die in diesen Stunden in seiner Stadt gewaltsam sterben. Zwei werden totgeschlagen. Vier springen von Dächern oder aus Fenstern. Einer erhängt sich. Einer ertränkt sich. Einer wird bei dem Versuch zu fliehen von einem Bus erfasst. Einer verbrennt in den Flammen einer Bibliothek, aus der er einen Arm voll Bücher retten will. Einem
bricht das Genick, als er mit auf den Rücken gefesselten Händen und mit einem Schild um den Hals »Ich bin ein unbelehrbarer Konterrevolutionär« nach zehn Stunden des Stehens und Wartens die Kraft und mit ihr das Gleichgewicht verliert und kopfüber von einer Bühne auf die Straße fällt.
    Die Erinnerung an diesen Tag beschäftigt Da Long nicht lange. Es gibt Wichtigeres als die Familie. Das Wohl der Partei. Die blutigen Kämpfe rivalisierender Roter Garden. Die Zeit verlangt Opfer von jedem. Darüber zu trauern wäre ein Anzeichen von dekadentem, bourgeoisem Denken. Eine Revolution kann nicht etwas Maßvolles oder Edelmütiges sein.
    Â»Harte Zeiten schaffen harte Menschen«, erklärt Premierminister Zhou Enlai. Oder ist es umgekehrt: Harte Menschen schaffen harte Zeiten?
    Viele Jahre später wird er mit Min Fang in einer Hütte in den Bergen Sichuans sitzen, draußen hören sie den Schnee fallen, es ist bitterkalt und dunkel, sie singt und rezitiert Gedichte für ihn. Ein Kapitel aus dem Tao Te King von Lao Tse bleibt ihm für immer im Gedächtnis:
    Der Mensch, wenn er ins Leben tritt,
ist weich und schwach,
und wenn er stirbt,
so ist er hart und stark.
Die Pflanzen, wenn sie ins Leben treten,
sind weich und zart,
und wenn sie sterben,
sind sie dürr und starr.
Darum sind die Harten und Starken
Gesellen des Todes,
die Weichen und Schwachen
Gesellen des Lebens.

Altes Gedankengut. Über zweitausend Jahre altes, klassisches chinesisches Gedankengut. Er hört die Zeilen und denkt an die Stimmen im Hof. An einen kurzen Luftzug, der etwas Unheilvolles ankündigte. An den kalten Atem des Todes.
    Wenn ihm jemand das Gedicht früher gezeigt hätte, wenn er es zufällig irgendwo zwischen den Büchern seiner Eltern oder in der Schule gefunden hätte, er hätte damit nichts anzufangen gewusst. Alte Kultur. Alte Gebräuche. Er hätte es zerrissen oder verbrannt und den Besitzer denunziert.
    Sie waren Gesellen des Todes gewesen.
    Harte Zeiten schaffen harte Menschen.
    Â 
    Ein halbes Jahr nach dem Tod seines Vaters wurde er zur Weiterbildung in Sachen Revolution in einen abgelegenen Teil der Provinz Sichuan geschickt. Die Partei hatte beschlossen, die städtischen »jungen Intellektuellen«, Gymnasiasten, Studenten und Akademikerkinder zur »Umerziehung durch die revolutionären Bauern« aufs Land zu verfrachten. Eigentlich war er mit seinen vierzehn Jahren noch zu jung, aber er meldete sich freiwillig, und weil er als junger Rotgardist seinen revolutionären Eifer bereits eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte, erlaubte man ihm als einem der Jüngsten, Maos Marschbefehl befolgen. Die Frage, was Mao Zedong mit dieser Maßnahme bezweckte, ob er damit die immer mächtiger werdenden und seiner Kontrolle entgleitenden Roten Garden auflösen wollte, oder ob es ein letzter Versuch war, seinen Traum von einem »neuen Menschen« zu

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