Drachenspiele - Roman
versucht, ihn mit ein paar Fragen abzulenken, jedoch nur einsilbige Antworten erhalten. Nun saà er auf dem Sofa, trank Tee, kaute geröstete Kürbiskerne und war in Gefahr, sich von Da Long anstecken zu lassen. Die Angst, die Panikattacken vor Gesprächen mit Ãrzten. Der nicht nachlassen wollende Glaube an ein Wunder. Die Enttäuschungen. Die immer wiederkehrende Hoffnung und ihre Versuchungen. Nichts davon würde er je vergessen. Als wäre es gestern gewesen.
Doktor Zhou betrat pünktlich um 11.30 Uhr den Hof. Er war ein groà gewachsener, hagerer Mann, der eine randlose Brille trug und, ohne ein Wort gesagt zu haben, Ruhe und professionelle Autorität ausstrahlte. Paul schätzte ihn auf
Ende dreiÃig. Er begrüÃte sie knapp, war dabei nicht unfreundlich, aber kurz und sachlich. Es war ihm anzumerken, dass er mit dieser Visite einem Freund oder Bekannten einen nicht unerheblichen Gefallen erwies, für den er höchstwahrscheinlich auch eine Erwiderung erwartete.
Er hörte sich Da Longs Erzählung von den ersten Symptomen und dem Verlauf der Krankheit an, respektvoll zwar, aber auch ungeduldig. Danach holte er eine dünne Taschenlampe, einen kleinen Hammer und einen Augenspiegel aus seiner Tasche und ging zum Bett. Da Long und Paul folgten ihm.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er Min Fang, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Können Sie mir sagen, wie Sie heiÃen?« Er tastete ihren Nacken ab, zog ihre Augenlider hoch und leuchtete hinein.
»Haben Sie Schmerzen?« Zhou öffnete ihr mit einem Holzstäbchen vorsichtig den Mund, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, hob ihn leicht an, lieà ihn für einen Moment in seiner Hand ruhen, als wolle er das Gewicht einer Frucht schätzen. Er hob ihren Arm, beugte ihn, so dass die Finger die Brust berührten, legte ihn wieder auf die Decke. Paul sah, dass Da Long jede Bewegung genau beobachtete, und ahnte, was in ihm vorging: Die Sehnsucht nach einem Wunder war gröÃer als das Misstrauen. Ein liebendes Herz. Ausbeutbar, verführbar. Wehrlos gegen die Versprechungen der Hoffnung.
»Ist da jemand? Hören Sie mich?« Der Arzt ging um das Bett, prüfte mit einem Hämmerchen die Reflexe an Knien und FüÃen. Er runzelte sorgenvoll die Stirn und fragte nach den Unterlagen aus dem Krankenhaus. Da Long gab ihm einen groÃen braunen Umschlag. Zhou öffnete ihn, holte die Untersuchungsergebnisse und Aufnahmen einer Computertomografie
heraus, hielt die Bilder gegen das Licht, betrachtete eins nach dem anderen lange und konzentriert, legte sie weg, überflog den schriftlichen Befund und die Liste der verabreichten Medikamente, schaute sich die Ergebnisse der Untersuchungen von Blut und Nervenwasser und die Messungen der Gehirnströme an, bevor er alles wieder in das Kuvert steckte.
Da Long musterte ihn erwartungsvoll.
»Ihre Frau leidet unter einer irreversiblen, bösartigen, degenerativen Erkrankung des Gehirns.«
Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen. Da Long schwieg, und Paul sah ihm an, dass er nicht in der Lage war, irgendeine Frage zu stellen. Deshalb war Paul geblieben.
»Wie kommen Sie darauf?«, wollte er wissen.
»Weil ich, nach allem, was ich sehe, einen Schlaganfall ohne Zweifel ausschlieÃe. Auf den Bildern findet sich auch kein Hinweis auf einen Tumor. Die Symptome und der Krankheitsverlauf sind eindeutig. Gibt es in der Familie Ihrer Frau Erbkrankheiten, was das Gehirn betrifft?«
Da Long deutete ein Kopfschütteln an, stützte sich auf einen Stuhl und setzte sich.
»Um letzte Sicherheit zu haben, müssten wir eine Kernspintomografie machen, das geht jedoch nur in Shanghai, ist sehr teuer und nicht nötig. Es würde meine Diagnose nur bestätigen und Ihrer Frau trotzdem nicht helfen. Eine Heilung ist ausgeschlossen, das Gehirn ist unwiderruflich geschädigt. Kein Eingriff, kein Medikament der Welt kann sie zurückbringen.«
»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Paul.
»Ja. Absolut.«
Die Bestimmtheit, mit der Doktor Zhou auftrat, irritierte Paul zunehmend. Die Ãrzte, die seinen Sohn in Hongkong
behandelt hatten, insbesondere Dr. Li, der Onkologe, waren älter gewesen, waren sich bewusst, dass der Mensch ein Mysterium ist, dem man sich mit groÃem Respekt, ja Demut, nähert in dem Wissen, dass man nur einen kleinen Teil davon versteht, dass jede Antwort letztlich nur zu neuen Fragen führt. Davon war bei
Weitere Kostenlose Bücher