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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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verwirklichen, stellte er sich nicht. Es hätte für ihn darauf nur eine Antwort gegeben: Der Große Vorsitzende war dabei, einen reineren, besseren Menschen zu erschaffen, und Da Long gehörte zu der privilegierten Generation, die er dazu ausersehen hatte.

    Zusammen mit acht anderen Jugendlichen kam er in ein Dorf, knapp zwei Tageswanderungen von der nächsten Stadt entfernt. Das Erste, was sie sahen, waren weiße Rauchsäulen, die fast senkrecht in den Himmel stiegen. Vor ihnen lag, inmitten einer grünen, zerklüfteten Berglandschaft, eine weit verzweigte Ansammlung von graubraunen Hütten und Häusern, die sich an beiden Ufern eines Flusses erstreckten. Die Felder waren der Erde in Form von Terrassen abgerungen.
    Man wies ihnen eine Hütte am Rande des Dorfes zu, in der es weder Strom noch fließendes Wasser gab. Die Wände bestanden aus Lehm, Stein und Stroh, an manchen Stellen stachen noch Halme heraus; es gab nur einen großen Raum mit zwei erhöhten, gemauerten Schlafstellen, unter denen sie Feuer entfachen konnten, um in den kalten Winternächten nicht zu erfrieren.
    Die Dorfbewohner lebten von der Feldarbeit, sie bauten Reis, Mais und Gemüse an; er bewunderte sie vom ersten Moment an und konnte es kaum erwarten, von ihnen zu lernen. Zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass die Bauern, mürrische und misstrauische Menschen, sie nicht voller Begeisterung empfingen, sondern ihnen mit Ablehnung begegneten. Allen voran der Parteisekretär, ein kleiner, kräftiger Mann mit Händen wie Schaufeln, einem harten, durchdringenden Blick und einer langen Narbe auf der rechten Wange; er hatte diverse politische Säuberungen schadlos überstanden und regierte die Gemeinde wie sein eigenes kleines Reich. Er mochte keinen der Jugendlichen. Für ihn waren sie nichts als Schmarotzer, verweichlichte Städter, die verwöhnte Brut der Intelligentsia, die er verachtete. Wem hatte Mao den Sieg im Bürgerkrieg zu verdanken, fragte er die Neuankömmlinge bei jeder Gelegenheit und ließ keinen Zweifel, dass es darauf nur eine Antwort gab: den Bauern. Nicht den Studierten, nicht
den Lehrern, Händlern oder Arbeitern. Den Bauern - Männern wie ihm.
    Am wenigsten mochte er Da Long. Er hielt ihn für einen Klugscheißer, ein typisches Kind der Stadt. Physisch schwach, mit den Händen ungeschickt, der harten körperlichen Arbeit nicht gewachsen. Der Übereifer, mit dem Da Long auf den täglichen Sitzungen zum Studium der Worte des Großen Vorsitzenden versuchte, seine körperlichen Defizite auszugleichen, ging ihm auf die Nerven. Es bereitete ihm Freude, allen im Dorf zu zeigen, dass dieser Schwächling, der sich selbst für einen jungen Kämpfer der Revolution hielt, seinen Aufgaben nicht hinreichend nachkam. Er ließ ihn die schwersten Körbe schleppen, schickte ihn auf unwegsamen Pfaden zu den abgelegensten Feldern, hieß ihn die tiefsten Gräben schaufeln, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach und ihn die anderen auf ihren Schultern in die Hütte tragen mussten. Aber selbst dort, während er sich auf dünnem Stroh erholte, zweifelte Da Long nicht am »revolutionären Geist« der Landbevölkerung.
    Der Rest der Gruppe merkte schnell, auf wen es der Parteisekretär vor allem abgesehen hatte, und sie beschränkten deshalb den Kontakt zu ihm auf das Nötigste. Als litte er an einer ansteckenden Krankheit.
    Neue Menschen, altes Verhalten.
    Zwei Wochen nach dem chinesischen Neujahr kam der Parteisekretär in ihre Hütte gestürmt und baute sich unheilvoll vor Da Longs Strohlager auf. Wo er das rote Buch mit den Worten Maos habe, wollte er mit schneidend scharfer Stimme wissen.
    In meiner Jacke, antwortete Da Long und sprang auf, um es zu holen.
    Von wegen, fauchte der Mann, zog ein zerknicktes, dreckiges
Buch aus seiner Manteltasche, hielt es ihm vor die Nase und blätterte genüsslich darin herum: Fast jede Seite war von feuchten Flecken oder schwarzen Schlammspuren überzogen, und selbst der rote Einband war unter dem braunschwarzen Matsch kaum mehr zu erkennen. Er habe es in der Nähe des Flusses im Dreck gefunden. Im Dreck! Schließlich schlug er die Innenseite des Umschlags auf. Dort standen zwei Zeichen: Da Long.
    Es musste ihm versehentlich aus der Tasche gefallen sein, stammelte dieser. Eine andere Erklärung gebe es nicht.
    Mich verarschst du nicht, du mieser, kleiner Bengel, brüllte der

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