Drachenspiele - Roman
noch knapp sechs Jahre warten musste? Saà er deshalb auf diesem Stuhl und musste sich als räudigen Hund, Gesindel und gewissenloses Pack beschimpfen lassen?
Nein. Ein lautes, deutliches, unerschütterliches Nein. Noch nicht ausgesprochen, in ihm jedoch nicht zu überhören.
Es war der zaghafte Beginn seiner eigenen Kulturrevolution, keiner groÃen proletarischen, sondern einer kleinen, stillen. Einer, die nicht auf den StraÃen, sondern im Herzen stattfand. Der keine Menschen zum Opfer fielen, sondern nur die Unerschütterlichkeit seines Glaubens an die GroÃen Worte des GroÃen Vorsitzenden. An GroÃe Worte überhaupt. Es würde ein weiter Weg werden, sein persönlicher Langer Marsch, aber auch der begann mit einem ersten Schritt.
Da Long wollte aufstehen, hoffte inständig, seine Stimme möge ihn dieses Mal nicht wieder im Stich lassen. Welche Glaubwürdigkeit besaà ein Angeklagter, der sich stotternd verteidigte? Er wollte widersprechen, die Anschuldigungen als haltlos zurückweisen, etwas anderes kam ihm gar nicht in den Sinn. Da hörte er die verzagte Stimme von Min Fang.
Ja, sie hätten einen Fehler begangen. Ja, sie waren leichtfertig und lasterhaft gewesen. Ja, sie hätten ihren Lüsten
freien Lauf gelassen und dabei nicht das rechte Klassenbewusstsein gezeigt. Der Zorn der Genossen träfe sie zu Recht. Die Schuld liege aber nicht bei Da Long, sondern allein bei ihr.
Als er sie unterbrechen wollte, herrschte sie ihn an zu schweigen.
Sie sei, erklärte Min Fang, vier Jahre älter, sie hätte es wissen müssen. Sie hatte sich hinreiÃen lassen von kurzlebigen romantischen Gefühlen, die nach den Worten des GroÃen Steuermanns bekanntlich so flüchtig seien wie der Schein einer Kerze im Sturm. Ihr mangelte es an Disziplin und Selbstkontrolle, eine Folge ihrer dekadenten, bürgerlichen Erziehung durch einen Arzt und eine Lehrerin. Musiklehrerin! Deshalb sei sie ja hier. Um von den revolutionären Bauern zu lernen. Um eine verlässliche Dienerin der Partei zu werden. Ihr Fehler werde sie nur anspornen, mehr zu arbeiten, härter zu sein gegen sich. Sie sei bereit, für die nächsten sechs Monate kein Wort mit Da Long zu wechseln, ihn zu ignorieren, so wie ein Pferd die Fliegen ignoriert. Sie sei bereit, jede Strafe, die das Komitee zur Verteidigung der Revolution ausspreche, zu akzeptieren, aber sie bitte inständig, ihnen noch eine Chance zu geben. Ein Revolutionär fällt nicht vom Himmel, habe Mao Zedong gesagt, ein junger Revolutionär macht in seinen frühen Jahren Fehler. Ein junger Revolutionär begeht Irrtümer. Deshalb braucht er die Hilfe und die starke Hand von älteren, erfahrenen Genossen. Von ihnen werde er geformt, wie der Hammer das glühende Eisen formt. Sie wolle nicht um Gnade oder Vergebung bitten. Nur um die harte, formende Hand der Revolution.
Da Long hielt den Kopf gesenkt, starrte auf seine Knie und wagte kaum, sich zu rühren. Er wusste nicht, was er von ihrer Selbstanklage halten sollte. Was waren das für merkwürdige
Mao-Zitate, von denen er noch nie etwas gehört hatte? Sie hatte doch hoffentlich nicht gewagt, sich welche auszudenken? Sollte man sie dabei erwischen, würde er sie nie wiedersehen. Warum distanzierte sie sich so harsch von ihm? Hatte sie solche Angst vor dem Zorn des Volkes?
Ihre Rede verfehlte ihre Wirkung nicht: Das empörte Raunen im Dorf war verstummt, sie hatte selbst den Parteisekretär nachdenklich gestimmt. Er sagte, dass sich das Komitee zur Beratung zurückziehen und am folgenden Tag seinen Beschluss bekannt geben werde.
Am nächsten Morgen verkündete er, dass beide ausführliche Selbstkritiken zu verfassen hätten, dass sie sich mit Extraschichten beweisen sollten und für die kommenden sechs Monate in unterschiedlichen Einheiten arbeiten würden und jeglicher Kontakt strikt untersagt sei.
Es wurden die längsten sechs Monate seines Lebens. Er sah sie aus der Ferne auf anderen Feldern arbeiten. Er saà mit ihr in der Gemeinschaftsküche beim Essen und durfte kein Wort an sie richten, und sie behandelte ihn, als wäre er Luft. Kein Blick. Keine Geste. Kein Lächeln. Er war allein mit seiner Unsicherheit und der Frage, warum sie sich so konsequent von ihm abwandte, und je länger er darüber nachsann, desto klarer wurde ihm, dass es darauf nur eine Antwort geben konnte: Sie liebte ihn nicht mehr. Romantische
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