Drachenspiele - Roman
Gefühle waren so flüchtig wie der Schein einer Kerze im Sturm, hatte sie gesagt.
Fast zwei Monate vergingen, bis er endlich eine Nachricht von ihr erhielt. Ein kleiner, zerknitterter Zettel, der in einem kurzen, hohlen Stück Bambus steckte, das er am Morgen in einem seiner Stiefel fand.
Wer nicht genug vertraut,
dem ist man nicht treu.
Wer nicht das Ewige kennt,
schafft sinnlos Unheil;
Wer das Ewige kennt, ist duldsam.
Duldsam ist aber: unbefangen;
Unbefangen ist aber: allumfassend;
Allumfassend ist aber: himmlisch;
Himmlisch ist aber: die Liebe.
Lao Tse
Er war sich nicht sicher, ob er alles richtig verstand, was sie ihm mit diesen Zeilen sagen wollte, doch an einem konnte er keine Zweifel mehr hegen - sie liebte ihn. Welche Bedeutung hatten da sechs Monate? Wer nicht das Ewige kennt! Nun war es nur noch eine Frage der Ausdauer, der Selbstdisziplin, und davon besaà er, solange kein Argwohn an ihnen zehrte, genug.
Erst viel später, als er Geschichten von jungen Rotgardisten hörte, die sich verliebt hatten und in Verkennung der Umstände nicht bereit gewesen waren, Selbstkritik zu üben und sich voneinander zu distanzieren, die deshalb getrennt wurden und in weit auseinander liegende Teile des Landes geschickt und sich erst Jahre später, wenn überhaupt, wiedersahen, verstand er, was sie für ihn, für sie beide, getan hatte.
Knapp neun Monate nachdem sie wieder Kontakt zueinander haben durften, wurde Min Fang schwanger. Sie wussten, dass man sie zur Abtreibung zwingen würde, notfalls mit Gewalt, und es gelang ihr, den zunehmend gewölbten Bauch unter der weiten Arbeitskleidung so lange zu verstecken, bis es dafür zu spät war. Sie sprachen gemeinsam beim Parteisekretär
vor und baten um eine Ausnahmegenehmigung für ihre Hochzeit.
Er musterte sie lange mit seinem harten, kalten Blick, und Da Long hatte das Gefühl, ihn mittlerweile gut genug zu kennen, um darin lesen zu können. Der Mann war, nach über acht Jahren permanenter Revolution, endlosen Selbstkritiken und Prozessen, müde. Er kalkulierte, welche Scherereien es ihm bereiten würde, das Paar zu trennen, ein Tribunal abzuhalten und die Frau in die Stadt zu verbannen. Er überlegte, ob es möglicherweise sogar auf ihn zurückfallen könnte, wenn der Skandal publik würde, ob man ihn der Vernachlässigung seiner Aufsichtspflichten bezichtigen könnte. Da Long und Min Fang hatten darauf spekuliert, dass er mit einer Anklage gegen sie nichts mehr zu gewinnen hatte, dass er ausgelaugt genug war, um den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.
Sie sollten Recht behalten. Eine Woche später durften sie heiraten, zwei Monate darauf wurde ihr Sohn Xiao Hu, Kleiner Tiger, geboren.
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Die Sonne war längst untergegangen, vom Hof fiel nur noch Dunkelheit durch die Fenster, eine kleine Lampe neben Min Fangs Bett erleuchtete notdürftig das Zimmer. Seit Stunden war Da Long ruhelos im Halbdunkel auf und ab gewandert. Er wusste selbst nicht, woher all diese Erinnerungen so plötzlich kamen.
Der Tag, an dem sein Vater starb. Er kam ihm nicht oft in den Sinn. Es hatte Phasen in seinem Leben gegeben, da waren die Gedanken daran wie ausgelöscht, doch seit einiger Zeit kehrten sie häufiger zurück. Es musste am Alter liegen, vermutete er. Sie tauchten auf wie Bäume in dichten Nebelschwaden, waren für einen Moment klar und deutlich sichtbar
und im nächsten Augenblick wieder verschwunden. Seltsamerweise konnte er an den Tod seines Vaters nicht in der Vergangenheit denken, sondern nur in der Gegenwart. Er hört Schreie aus dem obersten Stockwerk. Nicht hörte . Vor ihm liegt ein Mensch. Nicht lag .
Es musste an seiner Schwester liegen, sie hatte die Bilder zurückgebracht. Es war ein Fehler gewesen, sich überhaupt an sie zu wenden. Er war dumm und naiv gewesen. Er hatte sich lächerlich gemacht. Er hatte es geahnt, aber nichts unversucht lassen wollen. Seine Schwester war keine Ãrztin. Sie hatte kein Geld. Sie konnte ihm nicht helfen. Der Rest interessierte ihn nicht.
Sie hatte ein wenig von sich erzählt, es war ihr schwer gefallen, und er hatte groÃe Mühe gehabt, ihr zu folgen. Sie hatte erwartet, dass er Fragen stellte, das war ihm nicht entgangen, aber er konnte es nicht. Es ging um das Leben seiner Frau. In ihm war kein Platz für fremde Geschichten. Später einmal. Vielleicht.
Wer konnte ihm jetzt noch helfen? Doktor Zhous Diagnose war so
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