Drachenspiele - Roman
21. Stock des China Life Building in Pudong und versuchte sich zu konzentrieren. Er musste eine Sitzung der Rechtsabteilung vorbereiten, deren Leiter er seit sechs Monaten war, doch seine Gedanken glitten fortwährend in alle Richtungen davon. Seine Augen schweiften durch das neue Büro, das gröÃer war als die Wohnung, in der er mit Yin-Yin und den Eltern seine Kindheit verbracht hatte, das angrenzende Schlafzimmer gar nicht mitgerechnet, das ihm in seiner Position zustand, und in dem sein Vorgänger sämtliche Sekretärinnen der Abteilung verführt hatte. Hinter der bis auf den Boden reichenden Fensterfront erstreckte sich eine Stadtlandschaft, bei deren Anblick ihm zuweilen immer noch ein Schauer über den Rücken lief. StraÃen,
Autobahnen, Hochhäuser, so weit er sehen konnte. Direkt vor ihm das neue Wahrzeichen Shanghais, der mächtige Pearl-TV-Turm. Ganz links das höchste Gebäude Chinas, der elegante Jin-Mao-Wolkenkratzer. Wenn er ans Fenster trat, konnte er von oben direkt in die Baustellen blicken, auf denen in atemberaubendem Tempo ein halbes Dutzend weiterer Bürotürme entstanden, jede Woche ein neues Stockwerk. Wachstum kannte keine Grenzen. Nicht in dieser Stadt.
Bei klarer Sicht konnte man auf der anderen Seite des Huangpu-Flusses die Spitzen der Wolkenkratzer am Platz des Volkes in der Sonne leuchten sehen. Heute nicht, heute hing eine braungraue Glocke aus Dunst und Abgasen über der Stadt, selbst den Turm des Peace Hotel auf dem Bund konnte er nur in Umrissen erkennen.
Auf seinem Schreibtisch standen zwei Telefone und zwei Computerbildschirme, einer zeigte die aktuellen Kurse an der Shanghaier Börse. Alibaba war gestiegen. SinoChemical ebenfalls. PetroChina auch. China Mobile um fast zehn Prozent. Auf dem Papier war Xiao Hu in den vergangenen vierundzwanzig Stunden um fast 50 000 RMB reicher geworden. Das war mehr als das Gehalt, das ihm China Life im Monat zahlte.
Ein paar Töne aus Beethovens Neunter Symphonie schreckten ihn auf. Er brauchte einige Sekunden, bis er das iPhone zwischen den Akten fand. Es war noch einmal Zhou.
»Entschuldige, störe ich?« Es war nicht Zhous Art, auf eine Antwort zu warten. »Ich habe ganz vergessen, dir etwas zu erzählen. Der Westler hat auf der Rückfahrt von Yiwu eine seltsame Bemerkung gemacht. Er wollte wissen, ob deine Mutter auch vergiftet worden sein könnte.«
»Vergiftet?« Xiao Hu hielt die Frage zunächst für einen misslungenen Scherz. Zhou neigte zu schwarzem Humor. Was für ein absurder Gedanke. »Wie kam er darauf?«
»Keine Ahnung.«
»Hat er auch gleich gesagt, von wem?«
»Nein. Es käme ja wohl nur dein Vater in Betracht, oder?«
»Ausgeschlossen«, entgegnete Xiao Hu entschieden. Nach kurzem Zögern fügte er etwas unsicher hinzu: »Sprächen die Symptome für eine Vergiftung?«
»Nicht direkt. Das Gehirn ist geschädigt. Dafür kann es viele Gründe geben. Vielleicht auch Gift. Aber warum sollte dein...«
»Absoluter Schwachsinn«, unterbrach ihn Xiao Hu. »Verschwende keinen Gedanken daran. Sag mir lieber, ob wir uns am Wochenende zum Essen sehen?«
»Gern.«
Damit war das Thema zunächst erledigt, und im Büro wurde es viel zu hektisch, um über diese Bemerkung lange nachzusinnen. Sitzung folgte auf Sitzung, am Abend ein Essen mit Kunden, anschlieÃend wurde noch in einer Karaoke-Bar weitergetrunken. Erst als Xiao Hu im Bett lag und nicht schlafen konnte, weil sich der Tag nicht so einfach löschen lieà wie das Licht, erinnerte er sich wieder an Zhous Anruf. War es möglich, dass Da Long die Schuld am langsamen Sterben von Mutter trug? Er traute seinem Vater vieles, eigentlich fast alles zu. Auch einen Mord an seiner Frau? Er dachte über ein Motiv nach, doch ihm fiel nicht einmal der Ansatz für einen möglichen Anlass oder Beweggrund ein. Es sei denn, ein zweites Geheimnis bedrohte seine Familie, aber das hielt er für ausgeschlossen. Nein, diese Idee war abwegig. Zwar hatte er sich in seinem Vater bereits einmal getäuscht, in diesem Fall war er jedoch so sicher, wie man sich bei einem Menschen nur sein konnte. Ein Rest Zweifel, das wusste er, blieb immer.
Wie um alles in der Welt war dieser Paul Leibovitz auf eine
solche Frage gekommen? Welche Andeutungen oder Beobachtungen im Haus der Eltern mochten ihn auf die Idee gebracht haben? Weshalb war er überhaupt in Yiwu
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