Drachenspiele - Roman
geblieben und nicht zurück nach Hongkong geflogen? Er würde Leibovitz am Abend, nach dem Auftritt Yin-Yins, kennen lernen und ihn dort zur Rede stellen. Diesem Gedanken hing er nach, bis ihm die Augen zufielen.
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Das Konzert seiner Schwester fand in der Dongping Lu 9 statt, einer alten Villa, die zum Konservatorium gehörte. Sie lag in der ehemaligen französischen Konzession, die in der Zeit zwischen 1840 und dem Zweiten Weltkrieg, als Amerikaner, Briten, Franzosen und Japaner die Stadt praktisch unter sich aufgeteilt hatten, von den Franzosen regiert wurde. Auch wenn das eine schmähliche Phase in der jüngeren Geschichte Chinas gewesen war, so gefiel ihm doch, was die Alliierten, insbesondere die Franzosen, an Architektur und Stadtplanung hinterlassen hatten. Ganze StraÃenviertel voller Lilong-Siedlungen. Kleine Parks und Gärten, Art-déco-Villen und Jugendstilhäuser. Platanenalleen, wie er sie von Fotos südfranzösischer Städte kannte. Dazu gehörte auch das im französischen Stil gebaute Haus in der Dongping Lu mit seinen vielen Türmchen und Erkern, er kannte es von früheren Veranstaltungen Yin-Yins. Das Palais stammte aus den dreiÃiger Jahren; die hochherrschaftliche Auffahrt, die elegante Lobby, der alte ParkettfuÃboden und die mit dunklem Holz getäfelten Wände - das war alles, was vom alten Prunk noch geblieben war.
Der Saal gleich neben dem Eingang, der als Konzertraum diente, war so voll, dass die Zuhörer hinter der letzten Reihe dicht gedrängt bis an die Wand standen. Xiao Hu freute sich für seine Schwester über den Andrang. In der ersten Reihe
entdeckte er Johann Sebastian Weidenfeller, Yin-Yins deutschen Freund, der ihm einen Platz frei gehalten hatte. Daneben saà Paul Leibovitz, der sich kurz vorstellte, bevor die Musiker die kleine Bühne betraten.
Yin-Yin trug ein modern geschnittenes Cheongsam aus roter Seide, das bis zu den Knöcheln reichte; ihre Schultern waren frei, der Kragen hochgeschlossen, der Stoff lag eng am Körper, die Seitenschlitze gingen bis weit über die Knie. Wieder einmal gestand er sich ein, dass er eine wunderschöne Schwester hatte.
Sie begannen mit einer Violinsonate von Mozart. Während der ersten fünf Minuten klingelten drei Mobiltelefone, eins davon war seins, aber weder Yin-Yin noch der Pianist lieÃen sich aus der Ruhe bringen. Xiao Hu schloss die Augen und versuchte, sich auf das Klavier und die Violine zu konzentrieren. Die Liebe zur Musik verdankte er seiner Mutter; geduldig hatte sie ihm das Notenlesen beigebracht, sein Gehör geschult, ein bleibendes Interesse für westliche klassische Musik geweckt, die in seinem jetzigen Leben allerdings viel zu kurz kam. Umso mehr freute er sich, seiner Schwester zuhören zu können. Ihr Spiel war technisch schon immer auf hohem Niveau gewesen, jetzt jedoch hatte es an Ausdruck und Leidenschaft noch gewonnen; es war ihm unverständlich, dass die Symphoniker sie beim ersten Vorspiel abgelehnt hatten. Er beneidete Yin-Yin um ihre Begabung, auch wenn sie ihm das nicht glaubte. Er wäre selbst gern Musiker geworden, doch ihm fehlte das wahre Talent. Und seit langem schon die Ruhe.
Als die zweite Mozart-Sonate begann, übertönte das Grundrauschen in seinem Inneren immer wieder die Töne der Violine und des Klaviers. Je stiller es um ihn herum war, desto lauter ging es in ihm zu. Es war ein fortwährender Strom von Gedanken, Plänen, Assoziationen und Stimmen,
die ihm durch den Kopf schossen, der morgens, noch bevor er die Augen öffnete, einsetzte und erst spät abends so weit abflaute, dass er für einige Stunden zur Ruhe kam. Er dachte an Alibaba.com , an seine Optionen für die Aktien, und ob er sie einlösen sollte. An seinen Vater. An seine Mutter. An dunkle Abende im Bett, an denen er nichts vernahm als ihren Gesang und neben sich den Atem seiner schlafenden Schwester. An die Geborgenheit, die in ihrer Stimme lag. An einen alten Küchentisch, an dem die Mutter bei schummrigem Licht saà und seine zerfledderten Schulbücher liebevoll in altes Zeitungspapier einschlug. Er dachte an seine Chancen, nach Peking versetzt zu werden, und an die junge Frau, die er gestern nach dem Karaoke gleich zweimal gevögelt hatte. Sein Geschlecht brannte noch immer ein wenig.
Yin-Yin hatte ihm einmal erzählt, dass es Tage gäbe, an denen sie ausschlieÃlich Musik in ihrem Kopf hörte, und Stunden, in denen
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