Drachenspiele - Roman
sie an nichts dachte. Leere. Stille. Für Xiao Hu unvorstellbar. Grauenvoll. Er liebte diesen Gedankenfluss in seinem Kopf, auch wenn er ihn manchmal anstrengte. Wenn Stille der Preis für eine Karriere als Musiker war, würde er nicht mit ihr tauschen wollen.
Sie warteten vor der Villa, bis Yin-Yin sich umgezogen hatte, Leibovitz stand ein paar Meter abseits unter einer StraÃenlaterne und telefonierte. Yin-Yin hatte ihn als einen ruhigen, freundlichen Menschen, der gerne lacht, beschrieben, jetzt ging er im Schein der Laterne auf und ab und sprach mit ernster, entschlossener Stimme in sein Handy. Xiao Hu hatte keine Ahnung, was er von dem Mann halten sollte. Er trug keinen Anzug, sondern eine ausgewaschene Jeans und ein weiÃes, kurzärmeliges Hemd, seine grauen Locken hätte er zu einem Zopf zusammenbinden können. Sein Körper war so durchtrainiert, dass er vermutlich jünger wirkte, als er war.
Am stärksten hatten ihn die Augen irritiert. Der Blick von Paul Leibovitz gehörte nicht zu den flüchtigen, schnellen, die sich gleich wieder abwenden; er hatte so lange auf Xiao Hu geruht, bis der sich verunsichert zur Seite drehte. Als Yin-Yin zu ihnen stieÃ, beendete er sein Telefonat, sah entspannter aus und gesellte sich zu ihnen.
Seine Schwester hatte ein paar Häuser weiter im Simply Thai einen Tisch reserviert. Sie nahmen in dem winzigen Garten Platz, bestellten umgehend, weil sie hungrig waren, stieÃen an und verfielen anschlieÃend in ein Schweigen, das Xiao Hu bald unangenehm wurde. Yin-Yin war erschöpft von ihrem Konzert, Johann Sebastian wusste offenbar ausnahmsweise nicht, was er sagen sollte, Leibovitz wirkte ruhig, abwartend.
»Waren Sie schon einmal in Shanghai?«, fragte Weidenfeller schlieÃlich, der Wortlosigkeit schlecht ertrug.
Paul nickte.
»Hat es sich sehr verändert seit Ihrem letzten Besuch?«
»Nein.«
»Wann waren Sie das letzte Mal hier?«
»Vor zehn Jahren.«
Weidenfeller lächelte gequält.
Paul Leibovitz breitete seine Serviette aus, beugte sich über den Tisch, sein Blick wanderte von Xiao Hu zu Yin-Yin und wieder zurück: »Ich muss euch etwas sagen«, erklärte er mit leiser Stimme. »Es betrifft eure Mutter.«
Alle drei musterten ihn neugierig.
»Sie leidet nicht an einer Nervenkrankheit. Sie ist vergiftet worden.«
Yin-Yin schaute ihn so verstört an, als habe sie gerade Musik im Kopf gehabt und er sie aus einer Sonate gerissen. Xiao Hu beobachtete Paul Leibovitz, ohne zu antworten.
Wieder war es Weidenfeller, der die Stille durchbrach: »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich habe eine Haarprobe untersuchen lassen. Nach dem Konzert rief mich das Labor an. Sie ist hochgradig mit Quecksilber vergiftet. Das Tausendfache des in Amerika und Europa erlaubten Höchstwertes. Es grenzt an ein Wunder, dass sie noch am Leben ist.«
Xiao Hu hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Was bildete sich der Mann ein? Wie kam er auf die Idee, unaufgefordert eine Haarprobe von seiner Mutter zu nehmen? Sie in einem Labor untersuchen zu lassen, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen?
»Hat meine Tante Sie beauftragt, hier herumzuschnüffeln?«, fragte Xiao Hu scharf.
»Nein«, erwiderte Paul gelassen.
»Warum mischen Sie sich dann in unsere Angelegenheiten ein?«
»Ich dachte, es interessiert euch zu erfahren, woran eure Mutter wirklich leidet.«
Arrogantes Arschloch. Xiao Hu schluckte die Worte gerade noch herunter. Er wollte antworten, aber seine Schwester bedeutete ihm mit einer harschen Handbewegung zu schweigen. »Unser Vater ist kein Mörder«, sagte sie mit einem kühlen Blick auf Leibovitz.
»Das behaupte ich auch nicht. Ihr versteht mich falsch. Der Fisch hat sie vergiftet. Der Fisch hat eure Katze getötet. Der Fisch hat Frau Ma zum Krüppel gemacht und Frau Zhuo ebenfalls.«
»Welcher Fisch?«, fragte Xiao Hu ungläubig.
»Der Fisch aus dem See in der Nähe eures Dorfes.«
»Woher wollen Sie das wissen?« Die Schärfe war in Xiao Hus Stimme zurückgekehrt. Er wusste nicht, warum, aber
er glaubte dem Mann kein Wort. »Sind Sie Arzt? Chemiker? Toxikologe?«
»Weder noch«, antwortete Paul. »Ich war Journalist und habe vor langer Zeit eine Geschichte über Katzen geschrieben, die so elendig verreckt sind wie eure Katze. Sie litten an der Minamata-Krankheit, genau wie ihre Besitzer. Daran habe ich mich
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