Drachenspiele - Roman
schon in China?«
Paul verdrehte als Antwort die Augen.
»Ich vermute, es ist nicht das erste Mal«, fuhr er fort, ohne sich beirren zu lassen. »Yin-Yin hat mir erzählt, dass Sie hervorragend Kantonesisch sprechen, Ihr Mandarin ist fehlerfrei, soweit ich es nach diesem Gespräch beurteilen kann. Dann wissen Sie aber auch, dass hier andere Gesetze gelten als im Westen. Sie wollen sich nicht allen Ernstes daranmachen, einen möglichen Umweltskandal aufzudecken?«
»Nein. Ich würde lediglich gern wissen, ob Min Fang Opfer einer heimtückischen Krankheit ist oder eines Verbrechens. Sie nicht?«
»Nein. Nur, wenn sich dadurch für sie etwas ändert.«
Auch Xiao Hu schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Was hätte meine Mutter davon?«, fragte Yin-Yin so leise, dass sie den Satz wiederholen musste.
Paul faltete in aller Ruhe seine Serviette, legte sie neben den Teller und stand auf. »Ich fürchte, dann haben wir uns nichts mehr zu sagen. Guten Abend«, erklärte er mit freundlicher Stimme, schob seinen Stuhl an den Tisch, drehte sich um und ging.
Er lieà ein lastendes Schweigen zurück, das selbst Weidenfeller nicht brechen mochte. Yin-Yin sank tiefer in ihren Stuhl und schloss die Augen. Xiao Hu nippte nachdenklich an seinem Bier, füllte sich Reis und Curry auf und begann zu essen.
»Und wenn er Recht hat?«, fragte seine Schwester in die Stille.
»Würde es Mama nicht helfen, hast du doch gehört«, antwortete er mit vollem Mund.
»Und was ist mit den anderen, die im Dorf leben? Müssen wir die nicht wenigstens warnen?«
Xiao Hu aà weiter, ohne zu antworten.
»Fischt denn in dem See überhaupt noch jemand?«, erkundigte sich Weidenfeller.
Yin-Yin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Sie rührte mit den Stäbchen in ihrem Glasnudelsalat, legte sie wieder weg, ohne ihn zu probieren. »Angenommen, es stimmt, was er sagt, müsste Sanlitun dann nicht zumindest eine Entschädigung an Mama und Papa zahlen?«
Xiao Hu saà über sein Curry gebeugt, kaute an einem Hühnerknorpel und warf der Schwester über seine Brille hinweg einen ernsten Blick zu: »Darüber denkst du besser nicht einmal nach«, erwiderte er und spuckte ein Stück Knochen auf seinen Teller.
»Warum nicht?«
»Schwesterchen, weiÃt du, was Sanlitun ist?«
»Ein Chemiekonzern.«
»Nein. Der Chemiekonzern, zumindest in der Provinz Zhejiang, und wenn ich mich nicht sehr täusche, gehört er zu den zehn gröÃten in China. Wir können nach dem Essen zu mir gehen und im Internet nachsehen, wer bei ihnen im Vorstand sitzt und welche Verbindungen sie in Beijing haben. Mit denen möchtest du dich nicht anlegen.«
»Aber...«
»Meine kleine Schwester«, sein Ton schwang zwischen Nachsicht und Ermahnung. »Ich habe fünf Jahre Jura studiert, ich kann dir genau sagen, was passiert, wenn wir versuchen, eine Entschädigung zu erstreiten. Wir werden in Yiwu nicht einmal einen Rechtsanwalt finden, der den Fall übernimmt.«
»Vielleicht in Shanghai«, wandte Yin-Yin ein.
»Glaube ich nicht. Aber angenommen, ein Verrückter würde uns vertreten, es wird nicht ein einziges Gericht in der Provinz bereit sein, unsere Klage überhaupt zu hören.«
»Und wenn doch?«
»Sollte wider Erwarten ein Richter so wagemutig sein, besteht nicht die geringste Aussicht, den Prozess zu gewinnen. Wir hätten einen Anwalt, Sanlitun eine ganze Rechtsabteilung. Wir tragen die Beweislast. Wir müssten nachweisen, dass Gift im Wasser ist, dass das Gift zweifelsfrei von Sanlitun in den See geleitet wurde und dass dieses Gift Mamas Krankheit verursacht hat. Nicht vermuten, nicht glauben, wissenschaftlich beweisen! Selbst wenn das gelingen könnte, was ich bezweifele, was meinst du, was das kostet. Und selbst wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen, wenn alle Daten, Zahlen und Zeugenaussagen für uns sprechen, hätten wir noch immer keine Chance. Hinter Sanlitun stehen auf jeden Fall die Provinzregierung und sicher auch Kader in Beijing. Wer steht hinter uns?«
Er schaute ihr direkt in die Augen, um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen: »Niemand. Hörst du? Niemand. Denk gar nicht erst darüber nach.« Er schob seinen leeren Teller in die Mitte des Tisches, nahm einen Zahnstocher und begann die Reste des Hühnerfleisches zwischen seinen Zähnen
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