Drachenspiele - Roman
Hotelzimmer war es stockfinster, sie hatte die Vorhänge so dicht zugezogen, dass kein Licht hindurchdrang, und den Wecker extra auf den Boden gestellt und mit einem Handtuch bedeckt, damit die roten Digitalziffern nicht durch den ganzen Raum leuchteten. Sie hatte das beklemmende Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein. Steif wie ein Stück Holz lag sie unter der Bettdecke, wagte nicht, sich zu bewegen, und lauschte. Sie hörte ihren flachen, angespannten Atem und einen zweiten. Oder bildete sie es sich ein? Sie war eigentlich kein ängstlicher Mensch, ihr machte es nichts aus, in ihrer Wohnung allein zu übernachten oder spätabends in Shanghai durch die menschenleeren Gassen des Französischen Viertels zu gehen,
was ihre Mitbewohnerin Lu groÃe Ãberwindung kostete. Jetzt allerdings pochte ihr Herz vor Aufregung.
Sie hielt die Luft an und glaubte, im Zimmer bewege sich jemand. Wer sollte etwas von ihr wollen? Sie hatte keine Wertsachen dabei, abgesehen von der teuren Armbanduhr, die Sebastian ihr zu ihrem Jahrestag geschenkt hatte und die auf dem Schreibtisch lag. Oder hatte es etwas mit dem Treffen mit Wang und dem Anruf bei Rechtsanwalt Gao zu tun? Sie vernahm eine Bewegung, das Knacken eines Gelenks oder etwas Ãhnliches. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, und überlegte, welche Optionen ihr jetzt blieben. Sie konnte sich schlafend stellen und hoffen, der Eindringling würde ihr nichts tun und schnell wieder aus dem Zimmer schleichen. Sie konnte laut um Hilfe rufen und hoffen, der Fremde würde vor Schreck die Flucht ergreifen, genauso gut könnte er sich aber auch auf sie stürzen und mit Gewalt zur Ruhe bringen. Sie konnte das Licht anmachen, sich schreiend verteidigen oder, je nach Position des Angreifers, versuchen zur Tür und auf den Hotelflur zu gelangen. Dort wäre sie in Sicherheit. Die Angst begann sie zu lähmen, sie musste schnell handeln, bevor die Panik ganz von ihr Besitz ergreifen würde.
Yin-Yin tat, als räkele sie sich im Schlaf, und rollte an die Kante des Bettes. Sie streckte eine Hand zum Nachttisch, ertastete den Lichtschalter, wartete einen Augenblick, drückte ihn und sprang im selben Moment mit einem Schrei auf.
Im Zimmer blieb es stockfinster.
Sie hörte, dass die Tür aufgerissen wurde und gleich darauf wieder ins Schloss fiel. Sie wollte hinterher, stieà dabei mit dem Knie gegen den Schreibtischstuhl, trat mit der Ferse auf eine Kante des Weckers, stöhnte auf vor Schmerz und erreichte humpelnd die Tür. Auf dem Hotelflur war niemand zu sehen. Ihre Zimmerkarte, die man neben dem Eingang in
einen kleinen Schlitz stecken musste, um Strom zu haben, war herausgezogen worden und lag auf dem Boden, deshalb war das Licht nicht angegangen. Yin-Yin steckte sie wieder hinein, schloss die Tür und schaute sich um. Der Unbekannte hatte keine Spuren hinterlassen, die Uhr lag auf dem Schreibtisch, daneben ihr Mobiltelefon, ihr Notizbuch und ihre kleine Handtasche.
Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie am ganzen Körper zitterte, ging ins Bad und erbrach sich. Dann rief sie Paul an.
»Hallo?« Schon seine verschlafene Stimme beruhigte sie ein wenig. Zwei Minuten später stand er barfuÃ, nur mit Jeans und Unterhemd bekleidet, in ihrem Zimmer.
»Bist du sicher, es fehlt nichts?«, fragte er besorgt.
Sie saà auf dem Bett, hielt ihre angewinkelten Knie umschlungen und zitterte.
»Wahrscheinlich hast du ihn überrascht, sonst hätte er die Armbanduhr mitgenommen«, sagte Paul und begann, das Zimmer aufzuräumen, stellte den Wecker zurück auf den Nachttisch, legte das Handtuch zusammen und brachte es ins Bad.
Yin-Yin nickte. »Meinst du, er wollte etwas klauen?«
»Was sonst?«
»Ich weià nicht. Ich habe gedacht, vielleicht hat es etwas mit unserem Gespräch mit Wang und unserem Termin morgen früh zu tun?«
Er schaute sie überrascht an. Nach einem Moment des Nachdenkens schüttelte er den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Wer sollte sich für uns interessieren? Und wenn es doch jemanden gibt, wie sollte er von der Sanlitun-Geschichte erfahren haben? Meinst du, Wang hätte jemandem einen Tipp gegeben?«
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete sie erschöpft. Wenn
es jemanden gab, dem sie so einen Verrat nicht zutraute, dann war es ihr alter Schulfreund, der Klassenclown. Sie hatte irgendwo einmal gelesen, dass Komiker eigentlich todtraurige Menschen seien, und
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