Drachenspiele - Roman
Alptraum, in dem ein Unbekannter ihr sämtliche Finger und die Handgelenke brach, so dass sie nie wieder Violine spielen konnte. Wäre das die schlimmste Strafe? Oder ging es um ihr Leben? Das ihres Bruders und ihrer Eltern? Den Zusammenhalt ihrer Familie?
»Meinen Sie im Ernst«, unterbrach Paul ihre Gedanken, »wir würden uns in Lebensgefahr begeben, nur weil wir dem Sanlitun-Konzern mit einer Schadensersatzklage drohen?«
Gao nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem blauen Stoff der Mao-Jacke, bevor er antwortete: »Ist unser Leben das kostbarste Gut, das wir besitzen? Oder das, was dieses Leben ausmacht? Man muss einen Menschen nicht gleich umbringen, um ihn zu zerstören. Nehmen Sie ihm die Arbeit. Nehmen Sie ihm die Familie. Nehmen Sie ihm die Freunde. Oder das Vertrauen in seine Familie und Freunde. Machen Sie ihm Angst. Wer in ständiger Furcht lebt, zahlt einen auÃerordentlich hohen Preis, oder nicht?«
Weil Paul und Yin-Yin nicht antworteten, fügte er hinzu: »Ich will Sie nicht entmutigen. Ich möchte nur, dass Sie wissen, was Sie tun.«
»Ich zweifle, ob wir wirklich â¦Â«
»Zweifel sind gut«, unterbrach sie der Anwalt. »GroÃe Weisheit kommt von groÃen Zweifeln, das hat schon Konfuzius gesagt.« Er lachte laut. »AuÃerdem, auch das will ich nicht verschweigen, gibt es immer wieder erstaunliche Ausnahmen.
Alles ist Politik in unserem Land, und manchmal steht man, ohne es zu ahnen, auf der richtigen Seite. Wer weià schon, welche Mächte in Beijing gegen Sanlitun arbeiten? Wirklich sicher kann sich bei uns nur fühlen, wer nichts zu verlieren hat. Und davon gibt es nicht viele. Trotzdem werden Sie in unserer Provinz keinen Rechtsbeistand bekommen. Wenn Sie Glück haben, gelingt Ihnen das in Shanghai.« Er öffnete eine Schublade, kramte eine zerknitterte Visitenkarte hervor und gab sie ihnen. Darauf stand derselbe Name, den schon Wang auf die Serviette geschrieben hatte. »Sagen Sie, dass ich Sie schicke, dann bekommen Sie sofort einen Termin. Und noch etwas: Lassen Sie sich dort nicht vom ersten Eindruck täuschen.«
Â
Yin-Yin und Paul beschlossen, auf dem Weg nach Shanghai bei Da Long vorbeizufahren, um ihm von den Gesprächen mit Gao und Wang zu erzählen.
Im Wagen herrschte eine bedrückende Stille. Yin-Yin gingen so viele Gedanken durch den Kopf, dass sie nicht wusste, worauf sie sich konzentrieren, worüber sie mit Paul zuerst reden sollte. Sie war noch nie mit staatlichen Autoritäten in Streit geraten. Bis zur Krankheit ihrer Mutter hatte es nichts in ihrem Leben gegeben, das ihr ernsthafte Sorgen bereitet hätte, sie hatte sich bisher weder bedroht noch in ihrer Freiheit eingeschränkt gefühlt, aber bei der Erinnerung an die Worte des Anwalts und den Fremden in ihrem Hotelzimmer bekam sie Angst.
»Glaubst du, dass Wang und Gao übertreiben?«
»Vielleicht«, antwortete Paul in Gedanken versunken.
»Gehörst du zu den Menschen, die nichts zu verlieren haben?«
»Glücklicherweise nicht«, erwiderte er mit einem Lächeln.
»Ich auch nicht«, sagte sie.
»Es gab eine Zeit, da gehörte ich zu ihnen«, fügte er ernst hinzu.
Sie blickte ihn verwirrt an.
»Davon erzähle ich dir später einmal.«
Â
Auf dem Dorfplatz stand ein neuer VW Passat mit getönten Scheiben, dessen blank polierter schwarzer Lack in der Sonne glänzte, eine Art von Auto, wie es sich selten in ihr Dorf verirrte. Auf dem Weg zu ihrem Vater kamen ihnen zwei jüngere Männer entgegen, die Yin-Yin nicht kannte und die gruÃlos an ihnen vorbeigingen. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, und Paul warf ihr einen Blick zu, der ihr sagte, dass es ihm ähnlich ging. Sie beeilten sich, zum Haus der Eltern zu gelangen.
Yin-Yin hatte ihren Vater lange nicht so verwirrt erlebt. Er saà am Bett der Mutter und erwiderte ihren Gruà so kurz und beiläufig, als hätten sie nur für wenige Minuten das Haus verlassen. Er bot ihnen Tee an, holte schmutzige Becher aus der Küche und statt eines Tellers mit gerösteten Sonnenblumenkernen stellte er einen mit leeren Hülsen auf den Tisch.
Paul wollte von Gao und Wang berichten, Da Long unterbrach ihn schon beim ersten Satz.
»I-i-ich hatte bis eben Besuch«, sagte er.
»Von wem?«
»Z-z-zwei Männer vom Gesundheitsamt in Yiwu.«
»Was wollten die?«, rief Paul überrascht.
»S-s-sie
Weitere Kostenlose Bücher