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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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überlegte nun, ob man sich selbst in Freunden täuschen kann. Aber sie war müde, viel zu müde, um den Gedanken weiter zu verfolgen. Vermutlich hatte Paul Recht, und es war ein gewöhnlicher Dieb gewesen, den sie gerade noch verscheuchen konnte, bevor er ihre Uhr einsteckte.
    Â»Ich kann bei der Rezeption anrufen«, schlug Paul vor. »Ich wette, alle Flure werden mit Videokameras überwacht.«
    Â»Versuch es.«
    Er stellte das Telefon laut und verlangte den Dienst habenden Manager.
    Â»Was kann ich für Sie tun?«, murmelte eine verschlafende Stimme.
    Â»Leibovitz, Zimmer 882. Ich möchte gern wissen, ob Sie auf allen Fluren Videokameras installiert haben.«
    Â»Selbstverständlich. Warum fragen Sie?« Der Manager war plötzlich hellwach.
    Â»Zeichnen Sie die Bilder auf?«
    Â»Ja. Warum?« Der Argwohn wuchs.
    Â»Kann ich runterkommen und mir den Film von der letzten halben Stunde aus dem achten Stock anschauen?«
    Â»Einen Moment bitte.«
    Sie hörten im Hintergrund Stimmen, die verstummten, als jemand den Telefonhörer zuhielt.
    Â»Es tut mir leid, ich höre gerade, dass es mit der Kamera technische Probleme gibt. Wir haben nichts aufgezeichnet.«
    Yin-Yin spürte, wie ihr wieder übel wurde, und atmete tief ein und aus.
    Paul legte auf, hockte sich zu ihr und nahm sie in den
Arm. »Wenn du möchtest, schlafe ich den Rest der Nacht hier«, sagte er.
    Yin-Yin wollte antworten, dass es nicht nötig sei, aber die Vorstellung, gleich wieder allein im Zimmer zu sitzen, war unerträglich. »Danke«, sagte sie leise, »ich glaube, das täte mir gut.«
    Paul holte seine Decke, löschte alle Lichter bis auf das im Badezimmer, warf die Zierkissen vom Sofa und machte es sich, so gut es ging, auf dem Zweisitzer bequem. Sie hatte ihm das Bett angeboten, es war breit genug für zwei, er hatte dankend abgelehnt. Sie drehte sich auf die Seite, genoss das Gefühl der Geborgenheit, das ihr seine Anwesenheit gab, und beobachtete ihn im Halbdunkel, bis ihr die Augen zufielen.
    Â 
    Rechtsanwalt Gao Jintao hatte sein Büro im ersten Stock eines unscheinbaren Hauses im »Sockenviertel« der Stadt. Paul und Yin-Yin waren durch Straßenzüge gegangen, die kein Ende zu nehmen schienen. Ein Geschäft reihte sich an das andere, und in allen wurden ausschließlich Strümpfe verkauft, die offenbar alle in Yiwu produziert worden waren.
    Das Treppenhaus war voll gestellt mit Fahrrädern, Kisten und Kartons, die Klingel funktionierte nicht. Paul klopfte.
    Gao öffnete die Tür nur einen Spalt und musterte seine Besucher gründlich, bevor er sie einließ. Sein Büro war eine kleine, dunkle Zweizimmerwohnung, in der sich in sämtlichen Regalen, auf Tischen, Stühlen und dem Großteil des Fußbodens Bücher, Akten und Papiere stapelten, dazwischen standen volle Aschenbecher. Es roch nach Zigaretten und abgestandenem Tee. Gao war ein kleiner Mann mit grauschwarzen Haaren, gelben Zähnen und Händen wie Pranken, die so gar nicht zu seiner schmächtigen Statur passten. Er trug eine dicke, schwarze Brille mit verschmierten Gläsern, eine abgewetzte
Mao-Jacke und ging barfuß, Yin-Yin schätzte ihn auf Ende fünfzig. Sie vergewisserte sich, dass sie den Akku aus ihrem Handy genommen hatte, Pauls Batterie war leer.
    Gao räumte zwei Stühle frei, bat sie, Platz zu nehmen, holte drei Gläser und eine Thermoskanne mit heißem Wasser, warf ein paar Teeblätter in die Gläser, goss Wasser darauf und setzte sich.
    Â»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er mit tiefer Stimme und zündete sich eine Zigarette an.
    Während Paul ihre Geschichte erzählte, ließ ihn der Anwalt nicht aus den Augen, wippte hin und wieder mit dem Oberkörper, und zweimal war ein leiser Furz zu vernehmen.
    Â»Kennen Sie jemanden, der bereit wäre, diesen Fall zu übernehmen?«, beendete Paul seinen Bericht.
    Gao antwortete zunächst mit einem Lächeln, das Yin-Yin nicht deuten konnte. War es sarkastisch gemeint, oder machte er sich lustig über sie?
    Â»Wie gefällt Ihnen mein Büro, junge Frau?«, erwiderte er dann unvermittelt.
    Sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte.
    Â»Schön ist es, nur ein bisschen eng, oder nicht?«, kam ihr Gao zuvor.
    Sie nickte.
    Â»Das war nicht immer so. Ich hatte mal eine Kanzlei mit vier Zimmern, einer Sekretärin und einem Mitarbeiter, der für

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