Drachenspiele - Roman
und warf Paul einen anzüglichen Blick zu.
»Mama ist sehr krank«, antwortete Yin-Yin und erzählte in wenigen Sätzen vom Leiden ihrer Mutter, ohne die Hinweise auf eine Vergiftung oder den Namen Sanlitun zu erwähnen.
»Das tut mir sehr, sehr leid«, sagte Wang ernst. »Die Ãrzte haben nicht die geringste Ahnung, was die Ursache sein könnte?«
»Nein«, sagte sie leise und merkte, wie sie unruhig wurde. Irgendetwas in ihr weigerte sich, ihm von dem Gift in Mamas Körper zu berichten.
Am Tresen schrillte eine Fahrradklingel, ihr Essen war fertig, Paul stand auf und balancierte das Tablett mit den Suppen und den Körben durch die leeren Stuhlreihen.
Wang musterte sie: »Ist dir nicht gut?«
»Doch«, log sie. »Nur ein bisschen erschöpft.«
»Sie kennen doch sicher Sanlitun«, mischte sich Paul ein.
»Den Chemiekonzern?«
»Ja.«
»Selbstverständlich. Eines der groÃen Unternehmen in der Provinz. Warum fragen Sie?«
»Yin-Yins Mutter ist vergiftet worden.«
Sie wäre am liebsten aufgestanden. Sie hatte Angst vor den nächsten Sätzen, aber ihr fehlte die Kraft, sie zu verhindern.
»In ihrem Körper«, fuhr Paul unbeirrt fort, »ist so viel Quecksilber, dass es den erlaubten Höchstwert um das Tausendfache überschreitet. Es gibt in dem Dorf noch mehr
Kranke. Wir vermuten, dass der Fisch aus einem nahe gelegenen See mit dem Gift belastet ist. An dessen Ufer liegt auch eine Sanlitun-Fabrik und...« Paul sprach nicht weiter.
Wang war eine Teigtasche von den Stäbchen geglitten, in das Essigschälchen gefallen und hatte sowohl sein als auch Pauls Hemd mit schwarzen Flecken übersät. Noch nie in ihrem Leben hatte Yin-Yin ein Gesicht gesehen, das sich derart schlagartig veränderte. Wang war bleich geworden und schaute so überrascht, als hätten sie ihm gesagt, er werde verhaftet.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Paul erschrocken.
»Nichts.« Er war ein Clown, aber kein guter Schauspieler.
»Wang, was ist passiert?«
Er legte die Stäbchen beiseite, wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn. Sein Blick wanderte von Paul zu ihr und wieder zurück. Er lehnte sich weit vor und fragte flüsternd: »Sind Sie ein Reporter aus dem Westen?«
Paul schüttelte den Kopf.
»Was dann?«
»Er ist ein sehr guter Freund von mir. Du kannst ihm vertrauen«, erklärte Yin-Yin.
»Kennst du ihn schon lange?«
»Ja. Sehr lange.« Sie wollte jetzt nichts erklären müssen.
Wang nahm sein auf dem Tisch liegendes Mobiltelefon, schaltete es aus und nahm den Akku heraus.
»Wo sind eure?«
Paul und Yin-Yin holten sie aus ihren Taschen.
»Ausschalten und Batterien raus.«
»Wozu?«, fragte Yin-Yin irritiert.
»Zur Sicherheit«, antwortete Wang kurz. Aus seinen Augen war jeder Schalk verschwunden.
»Ich habe vor ein paar Monaten einen Anruf von einem
befreundeten Kollegen aus einem unserer Büros in der Provinz Hubei bekommen. Dort gab es Ãrger mit einer Sanlitun-Fabrik. Die hatten giftige Abwässer in einen Fluss geleitet, aus dem Teiche Wasser bezogen, in denen Fische gezüchtet wurden. Alle krepiert. Ich weià nicht, wie viele Tonnen. Mein Kollege bat mich, hier ein wenig zu recherchieren. Wir haben im Umkreis von Yiwu zwei Fabriken, die Konzernzentrale von Sanlitun ist in Hangzhou, nur eine Stunde entfernt.«
Er machte eine Pause, als wolle er sie auf die Folter spannen.
»Und?«, fragte Paul ungeduldig.
»Ich durfte nicht. Anweisung aus Beijing.«
»Was heiÃt, du durftest nicht?« Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass Wang so simplen Befehlen gehorchen würde.
Wang blickte sich im Lokal um, vergewisserte sich, dass die Köche Karten spielten und die zwei Kellnerinnen vor dem Fernseher saÃen, bevor er weitersprach: »Ãber Sanlitun wird nicht recherchiert. Punkt. Geh ins Internet, dort findest du lauter positive Geschichten in den Wirtschaftsteilen, Wachstumsprognosen übertroffen, Gewinnerwartungen nach oben revidiert. Wachsende Marktanteile, die ganze Leier. Der Aktienkurs steigt und steigt. Mehr wirst du nicht erfahren.«
»Woran liegt das?«, fragte Yin-Yin erstaunt.
»Die Mehrheit der Aktien ist im Besitz des Staates und der Provinzregierung. Der Vater des Vorstandsvorsitzenden war ein enger Berater von Deng Xiaoping. Die werden von oben so gut geschützt, dass ihre Fabriken
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