Drachenspiele - Roman
nach, und geben Sie mir Bescheid.«
Sie holten ihre Sachen aus der Kanzlei, Yin-Yin musste zu einer Probe, und sie verabredeten sich für den Abend in einer Bar in der Nähe des Konservatoriums.
Paul schlenderte am Huangpu entlang Richtung Hotel. Dabei betrachtete er in Ruhe die berühmten Fassaden des Bunds, eine obskure und gleichwohl beeindruckende Mischung aus europäischen Baustilen, Neobarock, Neogotik, Neoklassik, Neorenaissance, ergänzt durch Beaux-Arts und Art déco; damit hatte der Westen damals seine Macht demonstriert und sich ein Denkmal gesetzt. Früher war die über einen Kilometer lange Häuserzeile die bekannteste Sehenswürdigkeit der Stadt gewesen. Ihm fiel auf, dass die heutigen Touristen dem Bund den Rücken zukehrten. Sie standen auf der Promenade und blickten fast ausnahmslos auf das andere Flussufer, auf Shanghais Wahrzeichen des 21. Jahrhunderts: die in den Himmel wachsenden Hochhäuser Pudongs. Die wenigen Besucher, die den Bund bestaunten, waren Ausländer.
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Sie trafen sich in der Face Bar im Garten des Ruijin Hotels, einem parkähnlichen Grundstück mit diversen Villen, das ein britischer Zeitungsbaron in den zwanziger Jahren für sich und seine Familie angelegt hatte.
Yin-Yin saà bereits auf der Terrasse unter einem Baum, dessen mächtige, mit leuchtenden Lampions behängte Ãste sich wie ein Schirm über sie spannten. Sie bestellten zwei Gläser WeiÃwein.
»Mein Bruder kommt später dazu, ist das in Ordnung?«
Paul nickte: »Hast du ihm schon etwas erzählt?«
Sie deutete ein Kopfschütteln an.
»Wolltest du Chen eigentlich provozieren heute Morgen?«
Sie sah ihn verwundert an: »Womit?«
»Dass er verantwortlich sein könnte für den Tod von Kindern, wenn er nichts tut. So ähnlich habe ich argumentiert, und ihr habt mir â¦Â«
»Das ist lange her«, unterbrach sie ihn.
»Drei Tage«, widersprach er.
»Sag ich doch«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »In Shanghai ist das lang.«
»Was hat sich in dieser Zeit verändert?«
»Viel«, antwortete Yin-Yin, und aus ihrem Gesicht war jedes Lachen verschwunden. »Etwas in mir. Ich habe darüber heute Nachmittag lange nachgedacht. Es ist ein Gefühl, das ich nicht in Worte fassen kann.«
»Trauer?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wut?«
»Auch.«
»Verpflichtung?«
»Nein, so würde ich es nicht nennen.«
»Wie denn?«
»Keine Ahnung, ich habe nur Bilder vor Augen: Meine Mama in ihrem Bett. Meine Freundin Feng. Ihr wunderbares Kichern, wenn wir uns vor meinem Bruder im Schuppen versteckten und er uns nicht fand. Die Tränen, die ihr dabei über die roten Wangen liefen. Wie sie meine vom Regen vollgesogene Schultasche trug, weil meine Arme und Schultern vom Violineüben so müde waren und wehtaten. Die kleine grüne Katze aus Jade, die sie mir als Talisman schenkte, als ich zum Studium nach Shanghai zog und die ich schon kurz darauf verlor. Ich sehe sie im Krankenhaus mit ihrem toten Kind im Arm. Ich glaube, manchmal sind es die kleinen Gefühle, die uns helfen, die groÃen zu verstehen. WeiÃt du, was ich meine?«
»Ich glaube, ja.«
»Wie würdest du es nennen?«
»Liebe«, antwortete er, ohne lange darüber nachgedacht zu haben.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ein besseres Wort fällt mir nicht ein.«
Yin-Yin schaute ihn verständnislos an. Sie wollte widersprechen, er sah es an ihrer Mimik, daran, wie sich ihr Oberkörper aufbäumte, im letzten Moment hielt sie jedoch inne und lehnte sich nachdenklich in ihrem Stuhl zurück.
Der Kellner brachte den Wein, Erdnüsse und ein Schälchen Oliven; sie stieÃen an, ohne etwas zu sagen.
»Kommt dein Freund auch, wie hieà er noch?«, fragte Paul nach dem zweiten Schluck.
»Weidenfeller. Johann Sebastian. Nein, er kann nicht.«
»Hast du mit ihm schon gesprochen?«
»Nur kurz. Er hat überhaupt nicht verstanden, dass wir uns mit Wang und Gao in Yiwu getroffen haben. Als ich ihm sagte, dass wir heute Abend essen gehen, wurde er richtig sauer.«
»Warum?«
Yin-Yin zuckte mit den Schultern. »Manchmal frage ich mich wirklich, ob ich mich nur wegen seines Vornamens in ihn verliebt habe.«
»Johann Sebastian? Findest du den so auÃergewöhnlich schön?«, wunderte sich Paul.
»Nein. Aber ich liebe Bach.«
Paul
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