Drachenspiele - Roman
lächelte.
»Ich weià nicht einmal, welches Verhältnis er zu seinen Eltern hat.«
»Warum interessiert dich das?«
»Das ist doch das Wichtigste«, erwiderte sie erstaunt. »Wenn ich weiÃ, wie er seine Eltern behandelt, weià ich auch, wie er mich eines Tages behandeln wird.«
»Unter dem Gesichtspunkt würdest du mich nie heiraten«, entgegnete Paul amüsiert.
»Steht das zur Debatte?«, fragte sie ernst.
Wie oft hatte er das erlebt? Chinesen verstanden seinen Humor nicht, sie wussten nie genau, wann er einen Witz machte und wann nicht. »Nein«, antwortete er mit einem Räuspern. »Das war ein Scherz.«
Paul nahm sein Glas und stieà noch einmal mit ihr an. Sie nippte nur.
»Was hältst du von Chens Idee mit dem Internet?«, fragte sie fast flüsternd, obgleich niemand in Hörweite saÃ.
«Viel. Ich glaube, nach allem, was wir erfahren haben, ist es die beste Chance, etwas zu erreichen, ohne ein groÃes Risiko einzugehen. Ich bin mir nicht sicher, ob dein Vater in der Lage ist, sich selbst vor Gericht zu vertreten.«
Yin-Yin kaute nachdenklich auf einer Olive. Ihr Handy klingelte, als sie abnahm, meldete sich niemand. »Ich habe schon wieder vergessen, den Akku herauszunehmen«, sagte sie erschrocken. »Ich glaube, ich fange allmählich an, unter Verfolgungswahn zu leiden.«
»Ach was, auch Paranoiker haben Feinde«, erwiderte Paul mit einem Schmunzeln.
»Sollte mich das jetzt beruhigen?«
»Nein, gleich noch ein zweiter schlechter Scherz, entschuldige.«
Sie sahen Xiao Hu durch den Garten auf sie zukommen. Er war am Telefon, begrüÃte sie mit einem Nicken, entfernte sich wieder.
»Seit er die Rechtsabteilung leitet, hat er wahnsinnig viel zu tun«, sagte Yin-Yin, als müsse sie sich für ihren Bruder entschuldigen. »Er macht sich Hoffnung auf eine Beförderung in die Zentrale nach Beijing.«
Kurz darauf stand er mit einem Lächeln an ihrem Tisch. Er trug einen grauen Anzug und ein weiÃes Hemd und sah aus,
als komme er direkt aus dem Büro. Aber er wirkte freundlicher und entspannter als bei ihrem letzten Treffen.
Yin-Yin fasste zusammen, was sie in den vergangenen Tagen erlebt und gehört hatten, und veränderte dabei mehrfach geschickt den Ton ihrer Erzählung. Mal klang sie empört und wütend, dann warb sie mit sanfter Stimme um Verständnis, bat um seine Hilfe.
Paul hatte in den vergangenen dreiÃig Jahren gelernt, das Mienenspiel von Chinesen zu lesen; er verstand nicht, warum gelegentliche Besucher behaupteten, darin könnte man keine Regungen erkennen. Traurige Menschen sahen traurig aus. Fröhliche fröhlich, Einsame einsam. Der Ausdruck der Gefühle in ihrer Mimik war nur etwas zurückhaltender, dezenter, subtiler. Wie so vieles in diesem Land. Ãber Xiao Hus Gesicht flogen immer wieder Schatten, er blinzelte nervös, seine Lippen verengten sich zu zwei Strichen, er rutschte immer tiefer in seinen Stuhl. Yin-Yin bemerkte es in ihrer Aufregung nicht; als sie ihren Bericht beendet hatte, schaute sie ihn erwartungsvoll und nicht ohne Stolz in den Augen an. Der Blick der kleinen Schwester.
»Ihr seid verrückt«, war Xiao Hus erster Kommentar. Paul konnte nicht heraushören, ob es vorwurfsvoll, zweifelnd oder bewundernd gemeint war. Vielleicht von allem etwas.
»Was habt ihr als nächstes vor?«
Paul sah in Yin-Yins Gesicht, dass sie die Frage ihres Bruders als Anerkennung und Ermunterung deutete. »Wir müssen mit Papa reden«, antwortete sie schnell. »Ich glaube, es ist das Beste, wir folgen Chens Rat, und ich schreibe etwas und stelle es ins Internet.«
»Das tust du unter keinen Umständen«, sagte er und richtete sich wieder auf.
Sie zuckte zusammen. Kleine Schwester, groÃer Bruder.
»Warum nicht?«
»Weil sie dich kriegen.«
»Aber ich wollte ⦠ich meine ⦠ohne Namen ⦠und â¦Â«
»WeiÃt du, wie viele Beamte über das Internet wachen? Zehntausende! Sie sind überall: Auf Webseiten. In Foren. In Blogs. Chat Rooms. E-Mail-Postkästen. Es gibt dort keine Anonymität.«
»Aber Chen hat gesagt â¦Â«, Yin-Yin war den Tränen nah.
»Chen hat keine Ahnung. Die Geschichte, die er euch erzählt hat, mag sich so zugetragen haben. Was ist mit den anderen, die nicht gut ausgegangen sind? Wo Blogger ins Arbeitslager, in die Psychiatrie oder in den
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