Drachenspiele - Roman
saÃen.
Christine bekam vor Aufregung kaum Luft. Sie zögerte, zog seinen Kopf zu sich hinab und flüsterte: »Nicht hier.«
»Wo denn? Wohin fahren wir?«
»Nach Central. Dort nehmen wir ein Taxi auf den Peak.« Sie beobachtete ihn genau, wollte in seinem Gesicht lesen, wie lang und dunkel der Schatten war. Ob ein Kind darin aufwachsen könnte.
»Ausgerechnet dort? Hast du es dir gut überlegt?« Es war eine überraschte, eine erwartungsvolle Stimme, keine ablehnende, keine ängstliche.
Sie nickte. »Ja.«
Das Taxi setzte sie am Ende der Peak Road ab. Paul kaufte in der Station der Bergbahn zwei Flaschen Wasser, dann bogen sie in die schmale Lugard Road ein, eine Art Wanderpfad, der sich um die Bergspitze schlängelte und an beiden Seiten so dicht bewachsen war, dass er einem grünen Tunnel glich, in dem die Luftwurzeln der Bäume bis zur Erde reichten. Der Tag war warm, aber nicht zu heià in dieser Höhe, die Vögel zwitscherten, und aus der Stadt drang nur ein sanftes Grummeln. So hatte sie es sich vorgestellt.
Christine führte Paul zur einzigen Bank, die den Blick über den Hafen und auf Kowloon freigab.
»Du machst es spannend«, sagte er und schaute sie von der Seite prüfend an.
»Ich ⦠ich â¦Â« Christine stockte. Ich bin schwanger. Ich erwarte ein Kind. Sie hatte Angst, einen dieser Sätze auszusprechen. Worte konnten so banal klingen. »Wie viel ist eins plus eins?«, fragte sie plötzlich.
Er überlegte. Er strich seine verschwitzten Haare aus der Stirn, lieà sie dabei nicht aus den Augen, und Christine hatte das Gefühl, einem Menschen beim Denken, beim Enträtseln zusehen zu können. »Eins plus eins«, wiederholte er, »ist â¦Â« Tränen in seinen Augen, die kurze Antwort: »Drei.«
Christine nickte und spürte, wie das Gleichgewicht in ihr noch einmal ins Wanken geriet. Wie eine Hängebrücke, über die ein viel zu schwerer Lastzug zog. Irgendetwas konnte jeden Moment reiÃen und sie in die Tiefe ziehen. Sie war nicht in der Lage, Pauls Mimik, seine Reaktion zu deuten. Freute er sich? Hatte er Angst? Ja oder Nein.
Sie fühlte sich schutzlos und ausgeliefert wie selten in ihrem Leben. Als hätte sie alles, was sie besaÃ, in seine Hände gelegt. Er nahm sie in den Arm, Christine wusste nicht, ob er weinte, und ob es Tränen aus Freude oder Trauer wären. Ihr Kind. Sie wollte es nicht wieder hergeben müssen. Um keinen Preis. Sag ja. Bitte, Paul, sag ja.
»Was denkst du?«, flüsterte er.
»Ob wir zu alt sind für ein Kind.«
»Du meinst, ob es gesund ist?«
»Ja. Nein. Das können wir testen lassen. Ich meine, ob es nicht schrecklich ist, so alte Eltern zu haben«, erklärte sie und wich seinem Blick aus.
»Es gibt viele Dinge, die Eltern schwer erträglich machen. Ob die Vollendung des fünfzigsten oder sechzigsten Lebensjahrs unbedingt dazugehört, weià ich nicht«, erwiderte Paul.
War das ein Ja? Versuchte er, ihr zu sagen, dass er sich freute? Sie hatte nicht den Mut zu fragen und sagte stattdessen so sachlich wie möglich: »Und wie stellst du es dir vor? Ich meine, wie soll es im Alltag gehen?« Bedenken. Praktisch denken. Vielleicht konnte sie sich dahinter verstecken.
»Das ist nicht wichtig.«
»Warum nicht?«, fragte sie verunsichert.
»Wollen wir eine Plus- und Minus-Liste erstellen?«
»Nein. Aber wir müssen uns doch Gedanken machen.«
»Das ist wahr. Wir müssen wissen, ob in uns genug Platz ist.«
»Du machst es dir zu einfach«, widersprach sie.
»Im Gegenteil. Ich stelle die schwierigste Frage zuerst. Wenn wir die beantworten, finden wir Antworten auf alle anderen.« Er blickte sie prüfend an: »Was war deine erste Reaktion?«
Sie schaute noch immer auf den Boden und zögerte mit der Antwort. »Unglauben.«
»Ich meine, hast du dich gefreut oder nicht?«
Christine wusste, worauf er hinauswollte, aber sie traute sich nicht, die Worte auszusprechen.
»Ja oder nein? Was hast du gehört?«
Es lag eine sonderbare Ruhe in seiner Stimme, und je länger sie sprachen, desto mehr wuchs die Kraft, die von ihm ausging. Er hatte seine Antwort gefunden, und er kannte ihre. »Wir sind alt genug«, fuhr er fort, »unserer Intuition zu trauen. Was oder wem sonst?«
Jetzt erst hatte sie den Mut, ihn anzuschauen, sah seinen Blick und
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