Drachensturm
sich nicht. Er wartete eine Weile, aber es blieb still, und so schlich er weiter. Dann hörte er einen Kriegsschrei. Ein Schuss donnerte, noch einer. Männer schrien, Waffen klirrten – der falsche Kondor stieß wieder seinen Ruf aus, und plötzlich war es gespenstisch ruhig. Kemaq lauschte, und dann hörte er sie kommen. Die fliegenden Götter zogen dicht über den Wald, und ein lautes Rauschen ging durch die Blätter der Baumriesen. Wieder wurde es still.
»Hast du etwas gesehen?«, fragte Mila.
» Nein, für einen Augenblick dachte ich, da wäre eine Schneise, ein Weg vielleicht, aber wenn ich ihn jetzt suche, sehe ich gar nichts.«
» Aber die Schüsse kamen doch irgendwo von hier«, erwiderte Mila.
» Irgendwo von hier ist gut, Prinzessin«, brummte der Drache.
Mila seufzte. Durch seine Augen sah sie eine endlose Fläche dunkler Flammen, und jede von ihnen stand für einen Baum. Es schienen Millionen zu sein. Sie verbargen ihre Feinde und ihr Ziel vor ihr.
Nabu stieg wieder höher. Mila winkte Don Mancebo und Waleran de Martel zu, als Zeichen, dass sie sich nun trennen sollten. Ianus ließ einen hellen Ruf hören und drehte nach Süden ab, Amun-Ra zog nach Norden. Nabu hielt Kurs nach Osten.
» Du hast gesagt, dass du in diesem Wald etwas spürst, Nabu. Vielleicht sollten wir das suchen.«
» Fühlst du es denn nicht auch? Es ist eine Präsenz, fast wie ein Drache, und doch wieder nicht, und sie scheint überall und nirgends zu sein«, rief Nabu.
» Ich fühle etwas, ja, aber ich kann auch nicht sagen, woher es kommt«, erwiderte Mila. » Es ist vielleicht doch der Wald. Er ist verzaubert.«
Nabu knurrte. » Ich kann hier wenig Zauberhaftes erkennen, nur endloses, feindseliges Grün. Kein Ort für Drachen.«
» Aber irgendwo hier liegt der Tempel versteckt, den die Indios für Tamachoc gebaut haben.«
» Wenn der nicht ebenso ein Hirngespinst ist wie der Azoth und die gefiederte Schlange, die dieser verfluchte Alchemist hier finden will«, gab der Drache zu bedenken.
» Ich glaube, wir sind schon zu weit im Osten, Nabu, er muss näher am Waldrand liegen. Er wurde doch für die Menschen aus Tanyamarka gebaut.«
» Das klingt vernünftig«, meinte Nabu und wendete in einer weiten Schleife. Mila suchte den Himmel ab. Die Drachen hatten sich überall verstreut, sie sah nur noch weit entfernt kleine dunkle Punkte am bewölkten Himmel. Nabu begann, Kreise zu fliegen, und Mila dachte nach. Schließlich sagte sie: » Wenn wir ihn nicht mit den Augen finden, dann vielleicht mit dem Verstand.«
Nabu brummte. Es klang missmutig.
» Einen Tempel baut man doch nicht mitten in den Wald«, behauptete Mila.
» So? Ich habe schon viele Ruinen gesehen, die sehr wohl mitten in einem Wald lagen«, widersprach Nabu.
» Es ist ein Tempel für Tamachoc, den sie auch die Regenschlange nennen. Wasser, der Tempel steht irgendwo am Wasser!«
Nabu brummte nachdenklich, dann sagte er: » Dort unten gibt es viel Wasser, das kann ich riechen, aber ich habe vorhin einen Fluss gesehen, gestern auch einen See.«
» Dann lass uns dort suchen, Nabu.«
» Dein Wunsch ist mir Befehl, Prinzessin«, knurrte der Drache und zog eine weitere Schleife. Der Wald flog unter ihnen dahin, und seltsame, beunruhigende Tierlaute drangen an ihr Ohr. Sie schienen zu verstummen, wenn sie näher kamen.
Kemaq hoffte, dass er die Fremden ebenso wie die Huanca hinter sich gelassen hatte. Er kämpfte sich weiter voran, so schnell der Wald es ihm erlaubte. Der Weg, von dem die Krieger gesprochen hatten, musste irgendwo in seiner Nähe sein, aber er wollte ihn meiden. An diesem Pfad mochten noch mehr von Rumi-Nahuis Männern im Hinterhalt liegen. Die schwere Luft machte ihm zu schaffen, und die Nebelschwaden, die aus der vor Feuchtigkeit dampfenden Erde stiegen, ließen ihn immer wieder zusammenzucken, weil er dachte, dass sich dort ein Feind und nicht nur weißer Dunst bewegte. Manchmal glaubte er fast, diese Schwaden würden ihn verfolgen, sie schienen hier und da sogar Arme und Beine zu haben, aber er hoffte, dass das Einbildung war. Es wurde langsam Zeit, dass er endlich diesen Tempel fand, denn seine Sinne begannen ihm Streiche zu spielen. Er hetzte weiter. Hinter ihm krachte wieder ein Schuss, und Vögel flogen schreiend auf – oder waren das die Kriegsschreie der Huanca? Der Bach kreuzte jetzt seinen Weg. Kemaq blieb stehen. Irgendetwas sagte ihm, dass er ihn überqueren musste, aber sein Verstand riet ihm, dem Gewässer weiter zu
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