Drachensturm
folgen.
» Auf der anderen Seite ist der Weg. Folge ihm«, wisperte es.
Kemaq erstarrte. Vorsichtig blickte er sich um. Da war nur Wald, ein Gewirr von Bäumen, Büschen, Wurzeln, Ästen und Blättern. Träge zogen Nebelschwaden zwischen den Baumriesen hindurch.
» Was zögerst du?«, flüsterte es.
Aber Kemaq hatte genug. » Ich gehe keinen Schritt weiter!«, rief er laut.
Der Wald antwortete mit tiefem Schweigen. Selbst die Tiere schienen verstummt. Dann zog ein großer Schatten rasch über die Bäume dahin, und das Blattwerk rauschte. Kemaq biss sich auf die Lippen. Plötzlich spürte er eine Berührung auf der Schulter. Zu Tode erschrocken fuhr er herum. Es war Pitumi, aber ihr Gesicht und ihre Arme waren jetzt auch mit grünen und grauen Streifen bemalt. Er erkannte sie fast nicht wieder. Sie hob einen Finger an die Lippen, packte ihn am Arm und zog ihn hinter einen Baum. Im Wald war Bewegung. Hier und da knackte leise ein Ast, und Blätter raschelten. Es kam jemand, mehrere Männer, und da sie sich beinahe unhörbar fortbewegten, waren es sicher nicht die Fremden mit ihren schweren Stiefeln.
Ganz dicht neben ihm knackte es wieder. Kemaq drückte sich an den Baum. Pitumi hätte neben ihm sein müssen – aber sie war fort, wie in Luft aufgelöst. Ein Ast wurde zur Seite gedrückt, ein Busch bewegte sich. Jetzt konnte Kemaq den anderen sehen. Er kam genau auf ihn zu, und Kemaq hatte noch nicht einmal eine Waffe, um sich zu verteidigen. Plötzlich tauchten wie aus dem Boden gewachsen zwei Gestalten neben dem Krieger auf. Eine packte ihn mit dem linken Arm am Hals und hielt ihm mit der Rechten den Mund zu. Die andere hob ein Messer und stieß es dem Mann in die Brust. Er gab nur ein leises Stöhnen von sich und sank zu Boden. Seine Angreifer hielten ihn dabei fest, so dass es beinahe geräuschlos geschah. Jetzt erkannte Kemaq, dass Pitumi diejenige war, die den Krieger festgehalten hatte. Sie hob noch einmal warnend den Finger an den Mund. Ein leises Keuchen kam von irgendwoher aus dem Wald. Dann hörte Kemaq Schritte, und plötzlich standen sieben Männer neben Pitumi und starrten ihn an. Sie hatten ihre Körper ebenso bemalt wie die Heilerin. Kemaq begriff, dass es Chachapoya waren.
» Da ist der Fluss, dort drüben der See, aber ich sehe keinen Tempel. Tut mir leid, Prinzessin.«
» Flieg bitte noch einmal näher an den See heran, Nabu«, bat Mila.
Der Drache folgte ihrem Wunsch, und sie zogen tief über die hell flackernde Fläche, als die das Gewässer vor ihrem Inneren Auge erschien. Ein Wasserfall führte das Wasser aus dem See mit lautem Brausen hinunter in den Fluss.
» Nichts«, rief Nabu.
» Ich glaube, du hast Recht«, meinte Mila enttäuscht.
Nabu stieg auf und kreiste noch einmal über dem Wasser. Dann rief er plötzlich: » Da drüben – Rauch!«
Mila konnte nicht erkennen, was er meinte – das Flammenbild zeigte ihr solche Feinheiten oft nicht. Nabu war schon auf dem Weg. » Glaubst du, es sind Pizarro und seine Leute?«, fragte Mila.
» Ich glaube nicht, dass diese Eingeborenen ihre eigenen Wälder anzünden, Prinzessin.«
Jetzt konnte Mila etwas erkennen, einen schmalen Schleier vor den Bergen. » Es kann nicht sehr groß sein«, rief sie.
» Damit stammt es auch ganz sicher nicht von einem Drachen«, erklärte Nabu und sank tiefer hinab.
Schnell waren sie so nah, dass Mila den Rauch riechen konnte. Nabu flog einen engen Kreis.
» Ein eigenartiges Feuer«, meinte Nabu.
» Weil es sich nicht ausbreitet?«, fragte Mila.
» Ja, dieser Wald ist so feucht, dass er dampft. Wie kann da überhaupt etwas brennen?«
» Griechisches Feuer?«, fragte Mila.
» Das denke ich auch. Er lebt also noch«, erklärte der Drache finster.
Mila wusste, wen er meinte. » Sei vorsichtig, er ist sicher in der Nähe«, warnte sie.
Nabu stieg wieder etwas höher. » Er kann genau unter uns sein – und wir würden ihn trotzdem nicht sehen. Dieser verfluchte Wald ver…«, er sprach nicht zu Ende.
» Was hast du?«, fragte Mila besorgt.
» Dort drüben, über dem See.«
» Was denn? Ich sehe nichts.«
» Das tut mir leid, denn dort steht der prachtvollste Regenbogen, den man sich nur denken kann, Prinzessin.«
» Ein Regenbogen?«, fragte Mila. Sie starrte angestrengt hinüber, aber sie konnte nichts erkennen.
» Sagtest du nicht, dass Tamachoc etwas mit einem Regenbogen zu tun hat?«
Mila nickte, obwohl Nabu das natürlich nicht sehen konnte. » Die Regenschlange, so nennen ihn die
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