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Drachensturm

Titel: Drachensturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Fink
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sehr dicht über den Boden dahin. Ein Blöken erklang, der Gott schien landen zu wollen, und Kemaq verlor ihn kurz aus den Augen. Dann wieder ein Blöken und nur einen Moment später stieg der Ankay Yaya mit starken Flügelschlägen in den wolkenlosen Himmel auf. In seinen mächtigen Klauen trug er zwei tote Lamas. Er schwenkte kurz nach links, überquerte ein Stück vor Kemaq den Fluss und verschwand.
    Kemaq bemerkte erst jetzt, dass er zitterte. Er wusste, dass es viele Götter gab, sie wohnten in Bergen, Bäumen, Ebenen und Flüssen, aber seit Menschengedenken hatten sie sich weder dem Steinvolk noch irgendeinem anderen Volk gezeigt – außer den Hohepriestern und natürlich dem Sapay Inka, der ein Sohn Intis war. Und nun flogen sie für alle sichtbar über das Land. War das wirklich ein Zeichen, dass das Ende des Inkareiches gekommen war? Kemaq ließ sich weitertreiben. Die Inka hatten sein Volk besiegt, lange bevor er geboren worden war, viele von ihnen in die Fremde geschickt und seine Häuptlinge in ihre Hauptstadt entführt. Die Marachuna waren jetzt ein versprengtes Volk, wie alle anderen auch, Fremde unter Fremden, und er und seine Brüder hatten sich, auch wenn sie in Tikalaq geboren waren, dort nie heimisch gefühlt. Auch deshalb nicht, weil man ihre Eltern drei Jahre nach Kemaqs Geburt wieder in eine andere Stadt befohlen hatte. Es war die immer mürrische Mocto, die sie aufgezogen hatte. Er konnte sich kaum an seine Eltern erinnern. Ob er sie je wiedersehen würde? Er wusste ja nicht einmal, ob sie noch lebten. Kemaq trieb das Floß wieder schneller an. Dieser Fluss brachte ihn auf seltsame Gedanken.
    Endlich bemerkte Kemaq die angekündigte Veränderung. Der Frühlingsfluss mündete in einen Seitenarm des Mochica. Hie und da lugte das Dach einer Schilfhütte über das Ufer, das nun höher und steiler wurde, so dass die Stadt nicht mehr zu sehen war. Kemaq bemerkte die kleine Insel, die Pitumi ihm beschrieben hatte, und schob sein Gefährt nach links in den breiten Graben, der sich dort auftat und zur Stadt führen würde. Zur Linken wurde ein verlassener Tempel sichtbar und dahinter die Mauer einer ersten Festung. Demnach musste das, was so unvermittelt vor ihm in die Höhe wuchs, die Mauer der Mondfestung sein. Sie war viel höher als der Wall von Tikalaq. Die Strömung des Kanals wurde schwächer, aber noch trug sie ihn weiter. Kemaq drückte sich enger an sein Floß.
    In der Mauer war eine dunkle Höhlung, und der Kanal trug ihn genau dorthin. Er sah Tageslicht auf der anderen Seite des kurzen Tunnels, aber davor lag ein Hindernis, das Gatter, von dem Pitumi gesprochen hatte. Es sah stärker aus, als er sich das vorgestellt hatte, und als er es erreichte, stellte er fest, dass es aus kräftigen Baumstämmen bestand. Kemaq wurde gegen das Gatter getrieben. Er war ratlos. Die Stämme standen viel zu dicht beisammen, um sich hindurchzuwinden, und als er aufblickte, sah er, dass sie in den Ziegeln verankert waren. Er zog in Erwägung, diese Mauer zu umgehen und zwischen den Festungen in die Stadt zu schleichen, aber gerade, als er aus dem Graben klettern wollte, sah er einen Schatten über sich hinwegziehen und zuckte erschrocken zurück. Die Götter wachten über der Stadt. Er konnte nicht hinaus, und bleiben, wo er war, konnte er auch nicht. Pitumi hatte gesagt, die Verteidigung sei vernachlässigt worden. Davon bemerkte er nichts. Er hielt einen Augenblick inne, um sich zu sammeln, dann kam ihm der Gedanke, dass diese Stämme vielleicht schon sehr lange im Wasser standen. Könnten sie morsch sein? Er holte tief Luft und tauchte unter.
    Mila saß in ihrer Hängematte und ließ die Finger über die feine Klöppelarbeit ihrer Augenbinde gleiten, die sie auf ihr Knie gelegt hatte. Sie war ein Geschenk ihrer verstorbenen Mutter, die stets die Meinung vertreten hatte, eine zukünftige Gräfin von Tretzky dürfe nicht aussehen wie ein dahergelaufener Bettler. Sie war schneeweiß, auch wenn Mila das natürlich nicht selbst beurteilen konnte, aber sie fühlte, dass ihre Augen von fein durchbrochener Spitze verborgen und geschützt wurden. Sie trug sich eher wie ein leichter Schleier, nicht wie eine Binde, auch weil ihre Mutter der Meinung gewesen war, es sei » gesund«, wenn Luft an ihre blinden Augen käme, als wäre ihre Blindheit ein vorübergehendes Leiden, dem man mit ein bisschen frischer Luft abhelfen könne. Als Lucrecia von Tretzky ihrer Tochter diese Augenbinde geschenkt hatte, war sie auch nicht

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