Drachensturm
wissen die Götter.« Ein Dutzend Seeschwalben tauchten plötzlich über dem Fluss auf, verharrten kurz und zogen dann in einer schnellen Kehrtwendung zurück zum Meer.
Pitumi sah ihnen hinterher, dann sagte sie nachdenklich: » Es scheint, dass nun geschieht, was vorhergesagt wurde. Und wenn das Reich der Inka wirklich endet, finde ich vielleicht einen Weg zurück in die Berge meines Volkes.«
Kemaq starrte sie mit offenem Mund an. Das Reich der Inka sollte enden? Vorhergesagt? Ihm fiel ein, was der alte Chachapoya im Tempel erwähnt hatte. » Was ist das für eine Weissagung, Heilerin?«, fragte er. Und dann fiel ihm noch etwas ein. » Hat es etwas mit Pachakuti zu tun?«
Er sah Erstaunen in ihren Augen, als sie fragte: » Wo hast du das Wort gehört?«
» Auf den Bergen bei Tikalaq. Als wir auf das brennende Chan Chan hinabblickten, benutzte ein Mann vom Sonnenvolk dieses Wort, aber er sagte mir nicht, was es bedeutet.«
» Eine Zeitenwende, Chaski, wie die Sterne sie ankündigen. Die Himmelspforte schließt sich, der Weg zu den Ahnen wird den Inka verschlossen, und auch das Tawantinsuyu, das irdische Reich des Sapay Inka, wird keinen Bestand mehr haben. So sagten es die Priester der Regenschlange schon vor langer Zeit voraus.« Pitumi gab das mit einer Gelassenheit zum Besten, die Kemaq beinahe ebenso erstaunte wie das, was sie sagte. Er starrte sie an. Dann erkannte er endlich, dass unter der scheinbaren Gelassenheit eine große Anspannung lag. Diese Gedanken schienen sie mit Vorfreude zu erfüllen. Er selbst hatte allerdings Schwierigkeiten zu glauben, was er da hörte. Das Tawantinsuyu war das große Reich des Sapay Inka, der einem alten Geschlecht unbesiegbarer Herrscher entstammte – und das sollte enden? Jetzt?
» Nun solltest du eilen, Chaski«, sagte Pitumi plötzlich streng und riss ihn damit aus seinen wirbelnden Gedanken. » Hast du vergessen, dass dein Kopf ebenso wie der deines Bruders auf dem Spiel steht? Dieses Bündel wird nicht ewig schwimmen, denn wenn das Schilf sich vollgesaugt hat, trägt es kaum noch und wird dich sicher auch nicht vor den Augen der Götter verbergen.«
Ratlos starrte Kemaq das Schilfbündel an. Aber als er noch einmal nachfragen wollte, ob das vielleicht ein Scherz war, erhob sich die Chachapoya, drehte sich um und verschwand im hohen Schilf.
Kemaq blickte ihr hinterher. Er hatte viele Fragen, aber sie hatte natürlich Recht, er musste sich beeilen. Er legte sich auf sein Bündel aus Schilf und Geäst und watete weiter hinaus in die Mitte des Flusses. Dann überließ er sich widerstrebend der Strömung. Er war ein Läufer, kein Schwimmer, hatte nur als Kind im Fluss gebadet und gelernt, sich über Wasser zu halten. Das kleine Schilfbündel wirkte zerbrechlich, aber es trug ihn. Er atmete tief durch und ließ sich treiben. Gelegentlich half er mit kleinen Beinschlägen nach. Der Fluss schien nicht besonders tief. Er spürte immer wieder Grund unter den Füßen. Das Wasser war klar und kalt. Pitumi hatte ihm erklärt, dass dieser Fluss sich aus dem Winterschnee der Berge speiste und schon bald, in weniger als zwei Monden, ganz ausgetrocknet sein würde. Das war schwer vorstellbar, auch wenn das Wasser wirklich eiskalt war. Kemaq fror bald. War er erst einmal jenseits der Mauer, würde sich das Übrige schon finden, das redete er sich wenigstens ein. Wie die Heilerin ihm geraten hatte, hielt er den Kopf unter den wie zufällig aufragenden Zweigen versteckt.
» Wenn sich ein Gott ein Lama holt, dann kommen vielleicht auch die anderen auf die Weide – und ihr Weg würde über den Fluss führen, Chaski«, hatte sie ihn zur Vorsicht gemahnt. Er beschleunigte sein kleines Floß wieder. Die Paste, die sie ihm gegeben hatte, wirkte Wunder. Er fühlte sich frisch und stark und war beinahe bereit zu vergessen, was vor ihm lag. Plötzlich ertönte das schwere Rauschen, das er schon einmal gehört hatte. Er presste sich dichter an sein Gefährt, blickte auf und sah einen schwarzen Schatten langsam über den Fluss ziehen. Ein einziger Flügelschlag – und der Ankay Yaya, der fliegende Gott, hatte ihn schon überquert. Die Chachapoya schien Recht zu behalten, denn der Yaya hielt etwa auf die Stelle zu, an der der andere gefressen hatte. Als er vorüber war, überwand Kemaq seine Angst und reckte sich. Dieser sah anders aus als der schwarze Gott, er war ebenfalls sehr dunkel, doch schimmerte ein tiefer Goldton auf seinen Schuppen. Er stürzte sich auch nicht herab, sondern zog
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