Drachensturm
möglich zu gestalten.« Er verstummte für einen Augenblick, dann sagte er etwas ruhiger: » Selbst wenn ich das Recht durchsetzen könnte, glaubst du, es wäre klug, das um jeden Preis zu tun? Ich hätte in San Miguel leicht vier oder fünf Männer wegen ihrer Verbrechen gegen die armen Menschen dort aufhängen lassen können – aber ich tat es nicht. Weißt du, warum?« Und als Mila den Kopf schüttelte, fuhr er fort: » Wir haben eine Aufgabe, Mila. Der Kaiser hat Pizarro geschickt, damit er ihm neues Land erobert, und dazu stehen ihm kaum zweihundert Männer zur Verfügung. Ein jeder von ihnen ist unersetzlich, denn unser Feind hat vielleicht hunderttausende Krieger. Ich kann unter diesen Umständen dem Recht nicht immer zum Sieg verhelfen, auch wenn ich es wollte. Ich weiß aber leider, dass dich solche Überlegungen nicht kümmern, Mila, und deshalb befehle ich dir, dich in Zukunft aus solchen Dingen herauszuhalten, auch wenn es dir schwerfällt!«
Mila schluckte. Noch nie hatte ihr Onkel sie so hart angefahren. Sie verstand sein Dilemma sogar, aber sie würde trotzdem nicht schweigen, wenn sie Unrecht bemerkte. Eine Weile lastete unbehagliche Stille auf ihnen, dann sagte der Hochmeister: » Wir werden Don Rodrigo heute Nacht bestatten. Möchtest du dabei sein?«
» Natürlich, Onkel«, sagte Mila. » Habt ihr denn schon herausfinden können, ob wirklich ein Indio über die Mauer kam – oder entkam?«
» Nein, Tassilo und Lorenzo sind dabei, die Wachen noch einmal zu befragen, aber niemand außer Konrad hat etwas gesehen, und niemand außer dir hat etwas gehört.«
» Ich weiß aber, was ich gehört habe«, behauptete Mila, obwohl sie doch selbst Zweifel hatte.
» Ich schlage vor, dass du dich ausruhst. Fray Celso wird nachher zu dir kommen und sich um deine Lateinkenntnisse kümmern. Mach nicht so ein entsetztes Gesicht, ich gehe ohnehin davon aus, dass es dir gelingen wird, ihn abzulenken. Ja, das solltest du sogar, es scheint mir, sein – wie heißt die Sprache? Quechua? Gut, sein Quechua scheint mir verbesserungswürdig, wenn ich an das Desaster mit dem Curaca denke. Wir sehen uns dann bei der Abendmesse.«
Pitumi hatte richtig vermutet: Das Gatter unter der Mauer war vernachlässigt worden. Die verwendeten Stämme waren angefault, was aber nicht bedeutete, dass es leicht war, einen davon zu lockern. Kemaq hatte das Gefühl, schon eine ganze Ewigkeit an dem Stamm zu rütteln, den er dafür ausgewählt hatte, aber es half nichts. Er holte noch einmal tief Luft, tauchte unter, stemmte sich mit den Füßen gegen einen anderen Stamm und drückte mit der Schulter gegen das angefaulte Holz. Es knackte – endlich. Kemaq verdoppelte seine Anstrengung, dann verloren seine Füße den Halt, und sein Bein verklemmte sich zwischen den Stämmen. Es war nicht mehr viel Luft in seinen Lungen. Er befreite sich mit wildem Strampeln und kehrte zurück an die Oberfläche. Erst dort wurde ihm klar, dass er um ein Haar ertrunken wäre. Er zitterte, jetzt nicht mehr nur vor Kälte. Wie lange war er schon im Wasser? Plötzlich hatte er Angst davor, noch einmal hinabzutauchen. Aber dann schüttelte er die Furcht ab. Sein Leben und das seines Bruders hingen davon ab, dass er seinen Auftrag erfüllte. Er holte tief Luft und tauchte hinunter. Er betastete den Stamm – er war gebrochen, also hatte er es fast geschafft.
Noch einmal rüttelte er an dem morschen Holz, seine Lungen brannten schon, aber er blieb jetzt unter Wasser, rüttelte und zerrte, bis der Stamm schließlich ganz durchbrach. Er ließ das Stück Holz los, und es trieb davon, während er wieder auftauchte und tief Luft holte. Kemaq wusste, dass er damit erst die halbe Arbeit bewältigt hatte, denn ihm war nicht entgangen, dass es auf der anderen Seite der Mauer ein ebensolches Gatter gab. Er schob sein Schilffloß ans Ufer und ins Trockene, damit es sich nicht noch mehr mit Wasser vollsaugte. Er tauchte und quetschte sich durch die schmale Lücke, die er geschaffen hatte. Die Mauer war etliche Schritt breit und das Wasser zunächst zu tief, um darin zu stehen, aber plötzlich merkte er, dass der Boden anstieg. Der Kanal schien versandet zu sein. Das zweite Gatter war aus dünneren Hölzern als das erste, aber enger gesteckt. Schon die ganze Zeit hatte sich Kemaq gewundert, dass die Mauern der Festung einen so leicht zu findenden Schwachpunkt hatten, denn Krieger mit Äxten hätten sich von den Stämmen wohl kaum aufhalten lassen. Jetzt sah er, dass er sich
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