Drachensturm
Welt bedeutete, dass sie manchmal das Gefühl hatte, sie seien gar nicht dort. Jetzt hörte Mila auch das nervöse Getuschel der Schildknappen, die am Fuß der Treppe auf ihren großen Augenblick warteten. Konrad von Wolfegg gab selbst jetzt noch den Wortführer. Die Drachen waren auf dem Platz. Mila konnte ihre tiefen Atemzüge hören. Es waren nicht alle, einige waren wohl immer noch auf ihren Posten irgendwo in der Stadt. Mila konnte fünf von ihnen ausmachen: Der majestätische Marduk lag der Treppe am nächsten, sie hörte das Schnauben, das er immer von sich gab, wenn er ungeduldig wurde. Der Schwarze Nergal lag auf der anderen Seite des Kanals. Mila erkannte ihn an seinem typischen, immer misstrauisch klingenden Zischen. In seiner Nähe brummte Behemoth, der größte, aber auch schwerfälligste aller Drachen. Auf der anderen Seite des Platzes lag dicht beim Kanal Schamasch, genannt der Schöne. Er klang selbst beim Atmen herablassend. Schamasch war der Drache von Sir William Lysle und, bei aller Eitelkeit, die man ihm nachsagte, ein furchtloser Kämpfer. Mila hatte einmal zu ihrem Großonkel gesagt, dass selbst Schamaschs Atem gelangweilt klingen würde, aber der Hochmeister hatte überhaupt nicht verstanden, was sie meinte, und die Kaltblütigkeit von Ritter und Drache gelobt. An der Seite von Schamasch wartete Amun-Ra, der Goldene, den Mila an seiner Angewohnheit erkannte, immer wieder seine Flügelenden zu spreizen. Sie hörte die Krallen an den Enden der Flügel über den Boden kratzen. Die beiden Drachen waren unzertrennlich, ganz anders als ihre Ritter, denn Sir William Lysle verband nur eine tiefe gegenseitige Abneigung mit Waleran de Martel, dem Burgunder.
Während Mila sich auf das Lauschen konzentrierte, geschah etwas Eigenartiges: Sie konnte die Drachen plötzlich nicht mehr nur hören – sie spürte ihre Anwesenheit, ihre Präsenz, auf eine Art, die sie nicht erklären konnte und wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Atemlos lauschte sie auf ihr Inneres. Hätte sie jemand gefragt, sie hätte es nicht beschreiben können – es war weder Hören noch Sehen oder Riechen, aber sie spürte die Drachen so deutlich wie nie zuvor, wie mit einer Art sechstem Sinn: Da war Kemosch, der stärkste der Drachen, und der immer unruhige Reschef und auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, etwas abseits von den anderen, der zurückhaltende Ianus, Don Mancebos Drache – der Drache, den einst ihr Vater geritten hatte. Sie spürte sie alle. Sie wagte kaum zu atmen, weil sie Angst hatte, dieses Gefühl wieder zu verlieren. Es betraf nur die Drachen, es war, als wäre sonst nichts mehr auf der Welt – weder Mauer noch Mensch, nur sie und die Drachen. Es war beinahe, als könne sie etwas sehen, als türmten sich Schatten in der Finsternis, dunkel zwar, aber doch heller als das lichtlose Schwarz, in dem sie ihr Leben fristete. Und während sie fasziniert in sich hineinhorchte, fiel ihr auf, dass Nabu gar nicht anwesend war.
Vom Platz stiegen Geräusche zum Tempel hinauf, aber hier oben war es still. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über die Tempelspitze. Kemaq verfluchte die vielen seltsamen Wände, die verhinderten, dass er die Terrasse überblicken konnte. Schließlich gab er sich einen Ruck und lief los. Plötzlich spürte er ein Beben des Bodens unter den Füßen und nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Langsam wandte er den Kopf. Lähmende Furcht befiel ihn. Dort, keine zwanzig Schritte von ihm entfernt und bis eben verborgen hinter einer Mauer, hatte sich einer der fliegenden Götter erhoben, schüttelte sich, spannte seine mächtigen Flügel und kam nun mit stampfenden Schritten genau auf ihn zu. Der Tempel erzitterte unter dem Gewicht des riesigen Wesens. Und dieses Mal gab es nicht den geringsten Zweifel, dass der Gott Kemaq bemerkte.
Er stand wie gelähmt. Der Gott wurde etwas langsamer, ja, er hielt inne, spannte seine riesigen Flügel zur Gänze aus und schritt erst dann langsam weiter. Er kam Kemaq immer näher und betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf. Am Rande seiner Wahrnehmung fielen Kemaq Einzelheiten auf: Das schlanke Haupt mit den scharfen Zähnen, im Oberkiefer zwei lange Hauer, von denen einer zur Hälfte abgebrochen war, die großen goldenen Augen, die ihn nun betrachteten, das steingraue Schuppenkleid, über das bläuliche Farbschleier spielten. Dieser Gott war von schrecklicher Schönheit. Kemaq öffnete den Mund, aber er brachte kein Wort hervor. Der Ankay Yaya kam
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