Drachensturm
Platz. Die fliegenden Götter erhoben sich und begannen, sich an die Ränder des Platzes zurückzuziehen. Das bedeutete, sie kamen auch in Kemaqs Richtung. Kemaqs erster Gedanke war schnelle Flucht, aber dann beherrschte er sich und zog sich tiefer in die Schatten des Tempels zurück. Er fühlte das schmückende Ornament des Tempels, das ihm in den Rücken drückte – und fluchte über seine eigene Dummheit: Er konnte die Stockwerke doch auch erklettern! Die Verzierungen der Lehmwände, teils Vertiefungen, teils der Wand aufgesetzt, reichten aus, um einer Fußspitze Halt zu bieten. Er legte seine Schuhe ab, band sie zusammen und warf sie sich über die Schulter. Dann begann er den Aufstieg. Es war mühsam, denn die Stufenpyramide war steil, und der Zierrat und Schmuck waren nicht gemacht, um einem Kletterer als Hilfe zu dienen. Noch dazu war der Lehm alt und bröckelte unter seinen Händen und Füßen. Einmal sah er nach unten, und der kalte Schweiß brach ihm aus. Wenn er fehltrat, brauchte er sich um den Rückweg keine Sorgen mehr zu machen. Er war inzwischen weit oberhalb der Mauer, und er sah einen der Fremden, der aber unverwandt nach Osten blickte, wo der neue Tag heraufdämmerte. Aber noch vor dem ersten Sonnenstrahl erreichte Kemaq das vorletzte Stockwerk des Tempels. Er hatte Glück, denn auf dieser Seite des Tempels führte eine lange Rampe bis ganz nach oben. Er folgte ihr eilig hinauf. Ein schmaler, offener Gang tat sich vor ihm auf und lief gerade zur Mitte des Tempels. Kemaq hastete weiter. Er sah keine Räume oder Kammern – dem Mondgott wurde offenbar unter freiem Himmel gehuldigt. Ein Teil der Mauer schien erst kürzlich eingestürzt zu sein, denn zerbrochene Ziegel lagen auf dem Boden. Jetzt entdeckte Kemaq Hütten auf der anderen Seite der weiten Plattform. Vermutlich für die Priester, dachte er. Er war also fast am Ziel, aber irgendetwas ließ ihn jetzt zögern, er hatte plötzlich das Gefühl, dass auf der offenen Terrasse eine Gefahr auf ihn lauerte.
3 . Tag
Mila hatte nicht schlafen wollen, aber dann hatte die Müdigkeit sie doch übermannt. Weit vor Morgengrauen wurde sie von Dietmar geweckt, der meldete, dass der Morisco gekommen sei, sie zur Beisetzung Don Rodrigos abzuholen. Sie dankte dem Diener und bereitete sich vor. Es ging schnell. Die Drachenritter waren mit leichtem Gepäck gereist. Sie besaß nur zwei Gewänder, beide von hellem Grau. Sie strich sich mit dem Kamm durch die Haare, richtete ihre Augenbinde, die Borla, wie sie die Indios genannt hatten, schlüpfte in die leichten Stiefel und trat vor die Tür.
» Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Condesa. Wie ist Euer Befinden?«, fragte der Maure höflich.
» So gut, wie es unter solchen Umständen eben möglich ist, aber ich danke Euch, dass Ihr mich geleitet, Don Mancebo.«
» Ich würde sagen, dass es mir eine Freude wäre, wenn der Anlass nicht so traurig wäre.«
Mila blieb stehen: » Ist Nabu zurückgekehrt?«, fragte sie besorgt.
» Das ist er«, beruhigte sie der Maure. » Er kam vor einigen Stunden und landete hinter dem Palast. Wir haben ihn eine Weile mit Don Rodrigo allein gelassen. Ich glaube, er ist dann zum Mondtempel geflogen, um dort mit seinen Gedanken für sich zu sein.«
» Trauert er sehr?«
» Das ist schwer zu sagen, Condesa, wie es überhaupt schwer ist, zu erraten, was ein Drache denkt oder fühlt.«
Eine Weile gingen sie schweigend durch den Gang, die Treppe hinab und dann aus dem Palast hinaus. Mila spürte die Anwesenheit der Drachen auf dem Platz, und sie hörte einige Männer, die dort offenbar etwas vorbereiteten. » Was tun die Männer dort, Don Mancebo?«, fragte sie, um die bedrückende Stille zu brechen.
» Sie bereiten die Zeremonie vor, Condesa. Wir werden sie auf dem Platz abhalten, denn er bietet genug Raum, dass Menschen und Drachen zusehen können, soweit es ihr Dienst zulässt.«
» Lässt mein Onkel immer noch die Drachen über der Stadt kreisen?«
» Das tut er, Condesa, aber die Eingeborenen versuchen auch nicht länger, hinauszugelangen, ja, sie zeigen sich überhaupt nicht mehr. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist.«
» Ihr meint, sie bereiten im Geheimen vielleicht etwas vor, Don Mancebo?«
» Ihr seid klug, Condesa.« Der Maure führte sie um den Palast herum eine lange, staubige Straße entlang.
» Wohin führt dieser Weg?«, fragte Mila nach einer Weile.
» Zu einer Begräbnisstätte der Indios, Condesa. Fray
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