Drachensturm
noch näher, sog die Luft mit seinen schmalen Nüstern ein, verharrte und kratzte mit seinen großen Klauen eine Kerbe in das Dach des Tempels. Endlich löste sich Kemaqs Erstarrung: Er warf sich auf die Knie und barg den Kopf in den Armen. Keine Sekunde länger hätte er den Blick aus diesen goldenen Augen ertragen. Das göttliche Wesen blieb stehen, und Kemaq konnte seine tiefen Atemzüge hören. Es schnaubte zweimal, dann erbebte der Boden wieder, denn es stampfte weiter. Vorsichtig blickte Kemaq auf. Der Gott warf ihm einen Blick über die Schulter zu, dann spannte er seine weiten Flügel, hielt sie einen Augenblick in die aufgehende Sonne und sprang mit ausgebreiteten Schwingen vom Rand des Tempels. Er stieg höher in den Morgenhimmel und begann dann in weiten Kreisen, fast ohne Flügelschläge und mit einer Langsamkeit, die Kemaq beinahe schwermütig erschien, tiefer zu gehen. Es sah fast aus, als widerstrebte es ihm zu landen.
Kemaqs Herz raste, und sein Mund war wie ausgetrocknet. Er musste hier fort und konnte sich doch nicht losreißen. Dann hörte er hinter sich ein leises Zischen. Es wiederholte sich. Er drehte sich um. Dort im Eingang einer der Hütten, die am Rande der weiten Terrasse errichtet worden waren, stand eine Frau und winkte. Erst allmählich begriff er, dass sie ihn meinte. Er schüttelte sich und lief schnell zu der Hütte. Endlich hatte er einen Einwohner dieser Stadt gefunden. Ein Priester war es zwar nicht, aber Kemaq hielt sie für eine Tempeljungfrau, und das war ein Anfang. Sie verschwand im Inneren der Hütte, und er folgte ihr.
» Ist er fort?«, begrüßte sie ihn.
» Wer?«
» Der fliegende Gott.«
Kemaq nickte. Er hatte einen trockenen Mund.
» Du bist ein Chaski«, stellte die Frau fest.
» Bist du eine Dienerin des Tempels?«, fragte Kemaq zurück, und als sie bejahte, sagte er: » Ich habe eine Botschaft aus Tikalaq für den Priester dieses Tempels.«
» Dann wird es schwer werden, sie zu übergeben, Läufer, denn er ist ein Gefangener der Fremden«, erklärte die Tempeljungfrau, eine Chimú, wie er feststellte, als sich seine Augen allmählich an die Dunkelheit der Hütte gewöhnt hatten.
» Gibt es denn einen anderen Priester in diesem Tempel?«, fragte er schnell.
» Der Tempel des Si hat nur einen Priester und uns, seine Dienerinnen«, lautete die Antwort.
» Uns?«
» Zwei meiner Schwestern verstecken sich im Inneren des Tempels«, sagte die Tempeljungfrau. Misqi, so war ihr Name, erzählte Kemaq dann, wie die Fremden mit Feuer vom Himmel herabgekommen waren, die verlassene Festung des Mondes eingenommen und den Priester aus dem Tempel gezerrt hatten. » Wir hatten Glück, denn sie fanden die geheimen Kammern nicht, in denen wir uns verbergen. Vermutlich waren sie geblendet von dem Gold und dem Silber, mit dem wir Si dienen.«
» Sie versammeln sich unten auf dem Platz, glaube ich. Weißt du, was sie vorhaben, Misqi?«
Sie schüttelte den Kopf. » Und du solltest nicht versuchen, es herauszufinden, Chaski«, meinte sie.
Aber Kemaq hörte fremde Stimmen vom Platz heraufklingen und hätte zu gern verstanden, was sie sagten. Dann besann er sich und erzählte Misqi von seinem Auftrag, soweit er das durfte. Sie streckte die Hand aus. » Zeig mir den Quipu, Läufer.«
Er gehorchte widerstrebend und gab ihr die Knotenschnur. Sie betrachtete das Geflecht und seufzte.
» Du kannst das lesen?«, fragte Kemaq erstaunt.
» Ich fand, es könnte nützlich sein«, antwortete Misqi lächelnd. » Zum Glück war mein Vater ein Quipucamayoc, der hat es mir beigebracht.«
» Und – was steht da?«, fragte Kemaq.
» Du bist sehr neugierig, Chaski«, lautete die spöttische Antwort, aber dann sagte sie: » Es ist besser, du weißt es nicht, denn es könnte sein, dass du in die Hände der Fremden fällst. Ich werde dir einen Quipu zur Antwort geben, aber es wäre klug, dem Empfänger nicht zu sagen, dass er von einer Frau stammt. Erzähl ihnen, dass er vom Quipucamayoc des Mondtempels kommt, das ist nicht einmal ganz gelogen. Gab es eine mündliche Botschaft zu diesen Knoten?«
» Der Sonnenaufgang ist nicht fern, und der Sohn der Sonne wird über den Bergen erscheinen und die Schatten der Nacht vertreiben«, wiederholte Kemaq die Worte des Hohepriesters von Tikalaq.
Misqi starrte Kemaq an. » Sie wollen angreifen? Ich muss mir eine Antwort überlegen, die sie davon abhält, denn Menschen sollten nicht gegen Götter kämpfen.« Bei diesen Worten nahm sie schon einige
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