Drachensturm
den Rest des Tages ruhen können. Kemaq lief noch schneller, denn er ging jetzt davon aus, dass er mit seinen Kräften nicht mehr haushalten musste. Wenn nur das verletzte Knie nicht gewesen wäre. Du kannst es bald kühlen, also stell dich nicht so an, mahnte er sich, als er bemerkte, dass er stärker humpelte, um es zu schonen. Wenn also die Krieger nicht vorhatten, die Stadt anzugreifen, dann mussten sie ein anderes Ziel haben. Vielleicht wollten sie einen der Drachen fangen? Kemaq hätte fast gelacht, weil ihm der Gedanke so unsinnig erschien. Aber vielleicht wollten sie einen töten …
Kemaq schüttelte den Kopf. Das wäre noch verrückter, und der Hohepriester war alles, nur nicht verrückt. Er sah einen zweiten Punkt über der Stadt aufsteigen, aber dieser verschwand im Süden. Schon konnte er das Grün des Flusses sehen. Bald hatte er es geschafft, bald würde er Jatunaq treffen und vielleicht auch erfahren, welche Befehle er erhalten hatte. Qupay hatte sie beide in Gefahr gebracht und wusste es vielleicht nicht einmal, weil er so damit beschäftigt war, das große Opfer vorzubereiten. Kemaq stockte. Das große Opfer? Es war lange nicht vorgekommen, aber früher, in Zeiten schlimmer Not, waren besonders gesegnete Menschen als Opfer für die Götter auserwählt worden. Kemaq wäre beinahe stehen geblieben. Das Opfer – Kemaq ahnte jetzt, dass man Jatunaq und seine Männer auserwählt hatte, einen der Fremden zu fangen und zu opfern. Das war so einleuchtend, dass er sich wunderte, nicht schon früher darauf gekommen zu sein. Er lief weiter. Er konnte die Stadt sehen. Weitere Punkte waren darüber aufgetaucht, und er konnte schon ihre Gestalt erkennen. Sie kreisten wie Geier über einer Beute. Seine Beine fühlten sich furchtbar an, aber er hatte den Fluss beinahe erreicht. Drüben trat ein Mann aus dem Schilf hervor und winkte ihm zu. Es war Jatunaq. Kemaq blieb stehen. Aber nicht wegen seines Bruders. Zwei schwarze Punkte hatten sich in große Schatten mit Flügeln verwandelt. Einer von beiden hielt genau auf ihn zu. Die Götter hatten ihn entdeckt!
Irgendetwas sagte ihm, dass ihn dieser Gott nicht verschonen würde. Er fühlte lähmendes Entsetzen. Er wusste, dass er nicht stehen bleiben konnte, aber er konnte sich auch nicht rühren. Sein Bruder winkte ihm zu. Er hatte die Gefahr nicht bemerkt, schickte sich sogar an, ihm entgegenzugehen. Kemaqs erster Gedanke war, einfach loszurennen, sich zu seinem Bruder unter die Bäume zu retten, aber dann begriff er, dass er die Männer dort nicht verraten durfte. Er drehte sich um und lief los. Er verließ die Straße, und das war schlecht, denn der Boden war zerfurcht und uneben, kein gutes Gelände für einen Läufer. Er keuchte, seine Beine schmerzten, aber er zwang sie, schneller zu laufen, und versuchte, nicht auf das Zittern zu achten, das sich in seinen Muskeln ausbreitete. Schon hörte er die mächtigen Schwingen, die hinter ihm durch die Luft sausten und rasch näher kamen. Er schlug einen Haken, weil er wusste, dass er nicht schnell genug war, einem Gott davonzurennen. Er hörte von oben ein Lachen, menschlich und doch unmenschlich, und schlug wieder einen Haken. Etwas sauste dicht an ihm vorbei und bohrte sich in den Boden.
Jetzt rannte Kemaq keuchend doch Richtung Fluss, und er konnte nur hoffen, dass er weit genug von seinem Bruder und dessen Kriegern entfernt war, um sie damit nicht in Gefahr zu bringen. Der Gott hinter ihm knurrte, sein Flügelschlag klang nun anders. Kemaq warf einen ängstlichen Blick über die Schulter zurück. Der Ankay Yaya wendete schwerfällig in der Luft – er war ein riesiges graugrünes Ungetüm, und er sah wütend aus. Kemaq hatte eine winzige Hoffnung. Der Schilfgürtel war nicht mehr weit. Er flog über die unebene Erde, als sei es die am besten gepflasterte Straße im ganzen Tawantinsuyu. Sein Herz hämmerte wie wild. Er hörte wieder ein gequältes Stöhnen und bemerkte, dass es aus seiner eigenen Brust drang. Der mächtige Flügelschlag kam wieder rasend schnell näher. Da war das Schilf. Er war fast angelangt. Kemaq rannte hinein, schlug wieder einen Haken und sprang. Dann fiel mit lautem Fauchen Feuer vom Himmel.
» Der Hochmeister hat uns nach Norden befohlen, Nabu«, sagte Mila, etwas ratlos.
» Gleich, Prinzessin«, erwiderte der Drache und flog erneut eine elegante Schleife.
» Was gibt es denn da?«, fragte Mila ungeduldig. Sie wollte nicht gleich an ihrem ersten Tag als Ordensritter gegen einen
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