Drachentau
Die kamen ihr gerade recht. Sie kletterte zwischen Büschen und Bäumen den Berg hinunter, sehr genau darauf achtend, in Tumaros‘ Blickfeld zu bleiben. Es war einfacher, als sie dachte, denn der karge Boden hinderte so manche Pflanze daran, allzu üppig zu wachsen. Aber die Weiden waren prächtig, wie von Zauberhand hier hingepflanzt. Sie brach einige Zweige, klemmte sich das Bündel unter den Arm und brachte es in die Höhle.
Dann machte sie sich noch einmal auf, um Pilze zu suchen. Jetzt, im Spätsommer wuchsen sie reichlich. Rosa sammelte sie in ihre Schürze und freute sich auf eine leckere Mahlzeit. Tumaros regte sich noch immer nicht. Sie war unsicher, ob sie ihn ansprechen sollte. Vielleicht war er ungehalten, wenn er geweckt wurde? Aber schlief er überhaupt? Sie sammelte Zweige für ein kleines Feuer und entschied dann, ihn einfach zu fragen.
»Kannst du bitte das Feuer anzünden, Tumaros?«
Er hob wortlos den Kopf, stieß eine kleine Flamme aus und schlief weiter. Die Zweige brannten. Rosa spießte einen Pilz auf einen Stock und hielt ihn über die Flamme. Er schmeckte herrlich.
Eine Weile war sie so beschäftigt, sah sich gedankenverloren um, während sie aß, und fand immer größeren Gefallen an ihrer Umgebung, mit dem urwüchsigen Wald und den wettergeformten Felsen. Sie dachte an Jakob, spürte aber kein Verlangen, ihn zu sehen. Ihr Zuhause war jetzt hier. Sie stand auf und begann mit dem Korbflechten. Die Zweige eigneten sich gut. Sie weichte sie im Wasser ein und setzte sich an die Wand gelehnt neben Tumaros. Ihre geschickten Hände flochten die Weidenzweige zu einem schönen Korb und so verging die Zeit bis zum Abend.
Als der Himmel begann, sich rot zu färben, sprach sie ihn abermals an. »Tumaros, es beginnt zu dämmern. Wollten wir nicht fliegen?«
Er öffnete sein rechtes Auge, sah sie an, stand auf und streckte sich. »Ja, das machen wir. Was tust du da?«
»Ich flechte einen Korb für Pilze und Beeren. Aber ich brauch noch immer etwas Moos für mein Bett. Ich werde es morgen sammeln. Der Tag verging so schnell hier oben. Hast du in deinem Schatz ein Messer oder eine Axt?«
»Sicher habe ich eine Axt. Sieh nach, dann findest du sie. Aber lege sie in jedem Fall zurück.«
Drachen kennen jedes Teil aus ihrem Schatz ganz genau. Auch wenn er niemals eine Axt gebrauchte, hatte er doch einige, auch sehr schöne Schwerter, Säbel und Messer.
»Ist gut, Tumaros. Ich werde sorgsam sein. Den Raum hinten in der Höhle wollte ich mir ein wenig einrichten. Ist es dir recht?« Rosa hatte sich schon gemerkt, dass sie nichts tun durfte, ohne ihn zu fragen.
»Ja, kannst du. Ich kann ihn eh nicht gebrauchen. Der Eingang ist zu klein.« Tumaros streckte, so wie am Vorabend, seinen Flügel aus. »Bitte sehr, mein Augenschmaus, steige auf.«
Rosas Herz fing an zu rasen. »Oh, danke, mein Geliebter. Da lasse ich mich nicht lange bitten.« Mit strahlenden Augen kletterte sie flink auf seinen Rücken. »Warte noch, Tumaros. Darf ich etwas wünschen?«
»Nur zu.«
»Bitte fliege nicht über mein Dorf.«
»Gut, wenn du meinst, lassen wir es heute.«
»Nein, nicht nur heute, ich möchte nie mehr dahin. Ich gehöre jetzt hierher.«
Das hörte Tumaros gern. »Dann werden wir nie mehr dorthin fliegen.«
Rosa war erleichtert. Sie dachte daran, wie viel Angst ihre Dörfler vor ihm hatten. Außerdem wollte sie nicht mit ihm gesehen werden. »Danke, Tumaros, ich bin bereit.«
Und ehe sie sich versah, war Tumaros in der Luft und schwebte in seiner ganzen Größe über die Landschaft dahin. Rosa blickte gebannt nach unten. Winzig klein sahen die Bäume von hier oben aus. Nur Adler können genauso hoch fliegen wie Drachen. Sie sah, dass der Finsterwald einen Anfang und ein Ende hatte. Von Weitem erschien gegen Osten ihr Dorf.
Aber Tumaros drehte nach Westen ab und flog über Landschaften und Dörfer, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Sie flogen über Wälder, die Wege hatten, und sahen Bären in den Wäldern spazieren gehen. Sie flogen über eine Stadt mit Häusern aus Stein und spitzen Dächern. Sogar Häuser mit mehreren Stockwerken konnte sie erkennen. Überall waren Bären, die oft den Drachen gar nicht bemerkten, weil sie so hoch und lautlos flogen. Sie sprachen die ganze Zeit kein Wort. Rosa war sich sicher, noch nie etwas so Schönes erlebt zu haben. Zärtlich schmiegte sie sich an Tumaros und er grunzte zufrieden.
Die Sonne ging unter, die Nacht läutete den Rückflug ein. Rosa schaute
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