Drachentau
darauf, sich an seine Regeln zu halten. Abends, wenn er erwachte, kam die Entschädigung für die einsamen, bewachten Tage. Sie stieg auf seinen Rücken und sie sausten über die Landschaft dahin. Dann war Rosa frei, freier als man es sich in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte.
Hast du jemals auf einem allerhöchsten Berg gestanden, unter dir die Täler gesehen und weit über den Horizont hinaus geblickt? Bist du schon mal Schlitten gefahren, in wilder Fahrt abwärts und der Wind hat dein Haar zerzaust? Hast du schon mal auf dem Bug eines Schiffes gestanden, und am Horizont sind Delfine übers Wasser gesprungen? Bist du im Himmelsfirmament gewesen und hast die Erde mit ihrer blauen Pracht und Vollkommenheit unter dir gesehen? Dann, und nur dann, hast du eine winzige Vorstellung davon, wie es ist, auf einem Drachen zu fliegen.
Rosa war mutig geworden, sie stellte sich auf seinen Rücken, breitete die Arme aus und schloss die Augen. Hier oben war sie nicht allein. Die Sterne sangen für sie, ihr Lied füllte ihr Herz und heilte die Wunden des Tages. Aber Tumaros nahm Rosa nicht immer mit. Manchmal flog er allein, und wenn er wiederkam, ging er zum Knochenberg und spuckte einen weiteren Knochen dazu. Rosa schaute dann weg, um nicht zu sehen, was für ein Knochen es war. Hin und wieder legte er auch zu seinem Schatz einen Teil dazu. Was es genau war, konnte Rosa nicht erkennen, denn der Schatz war riesig und jedes kleine Teil verschwand in der Masse.
Auch letzte Nacht war er allein geflogen, deshalb war sie heute früher auf und die Morgensonne schien ihr von Osten ins Gesicht, wie ein Gruß aus ihrer Heimat, von den Bären, die sie noch immer mit Schmerzen vermissten.
Rosa streichelte sich sanft über den Bauch. Wie genau es geschah, dass eine Bärin und ein Drache Kinder bekommen, weiß niemand, aber es geschah und so auch bei Rosa. Sie liebte Tumaros und war mächtig stolz auf ihn. Es mussten Zwillinge sein, die in ihrem Leib heranwuchsen, sie spürte das. Heute Abend wollte sie es Tumaros sagen. Vielleicht schenkte er ihr ja ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, wenn sie ein Kind hätte und sie wäre tagsüber nicht mehr so allein. Rosa seufzte. Im Frühjahr würde sie gebären, bis dahin gab es noch allerlei zu tun. Die Kinderstube musste eingerichtet werden.
Sie stand auf und zog das Messer aus ihrem Gürtel. Die Zweige der Weiden am Bach wurden nicht weniger, so viele sie auch abschnitt. Rosa hätte gern gewusst, welcher Zauber sie wachsen ließ. Mittlerweile gab es schon einen ordentlichen Trampelpfad hinunter, sodass sie rasch welche besorgen konnte. Die Wiegen aus Korb sollten besonders schön werden. Sie nahm nur die allerbesten Zweige dafür. Die feinsten schlug sie mit einem Stein flach und geschmeidig und flocht daraus Matten. Wie es wohl sein würde, Mutter zu werden? Was würden das für Kinder sein? Drachenbären? Wie gerne hätte sie jetzt mit Emilia am Küchentisch gesessen und ihre Mutterfreuden geteilt. Noch lieber hätte sie Emilia bei der Geburt dabei gehabt. Sie schob den Gedanken beiseite. Es ging nicht und Tumaros war es wert, dass sie sich allein mühte.
Die Tage wurden kürzer und das Wetter rauer. Rosa hatte den Boden der ersten Wiege beinahe fertig. Jetzt saß sie windgeschützt in der Höhle, die Arme um die Knie geschlungen und wartete, dass Tumaros erwachte. Fasziniert betrachtete sie ihren prachtvollen Drachenmann.
Endlich öffnete er beide Augen und blickte sie an. »Was ist los, Rosa. Du bist so still. Hast du heute nichts zu tun?«
»Doch hatte ich. Ich bin schon fertig.«
»Ach so.«
Rosa holte tief Luft. Er fragte selten, was sie tat. Dies war ein guter Zeitpunkt. »Ich muss dir etwas sagen.«
»Und das wäre?«
»Wir werden Eltern.«
»Ich bestimme, was ich werde und was nicht.«
Rosa stand auf und ging zu ihm. »Tumaros, ich bekomme Kinder. Du wirst Vater.«
Sie blickte ihn erwartungsvoll an, aber er schaute gelangweilt.
»Na und?«
»Na und? Mehr sagst du nicht? Freust du dich nicht?«
»Freuen? Du bist lustig. Über so etwas freut sich kein Drache. Wir haben keine Kinder und ich hatte keine Eltern.«
»Das geht nicht. Jeder hat Eltern, sonst wären wir nicht hier. Kennst du deine Mutter nicht?«
»Nein, natürlich nicht. Drachen schlüpfen aus Eiern, die in Höhlen abgelegt werden. Das Drachenweibchen, das mein Ei abgelegt hat, war schon lange weg, als ich geschlüpft bin. Ich habe sie auch nicht gebraucht.«
Rosa dachte an ihre Mutter, die sie so oft
Weitere Kostenlose Bücher