Drachentau
Die nutzten sie zum Schreiben. Sie brachte Blumen, Blätter und Zweige, erklärte ihnen, wie die verschiedenen Pflanzen hießen und wie man ihren Namen schrieb. Sie lernten die Jahreszeiten kennen, den Wald, die Tiere, Wasser, Schnee und Eis, hörten von Regen und Wind und erfuhren, welche Pflanzen man essen darf und welche nicht.
Bernhard sog alles Wissen in sich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser und sein Herz brannte, es zu erleben, zu berühren, zu fühlen, zu riechen, zu schmecken. Wie fühlte es sich an, wenn Wind durch die Haare weht? Wie hört es sich an, wenn Schnee unter den Füßen knirscht? Wie sieht es aus, wenn Wasser den Berg runter fällt? Wie riecht der Wald? Wie warm ist die Sonne auf der Haut? Können Sterne wirklich singen?
Bernhard wälzte sich hin und her, bis Letizia genug hatte und zurück in ihr eigenes Bett ging. Seufzend setzte er sich auf und starrte zum Torbogen.
Die Freiheit war nur einen Steinwurf entfernt und eines Tages würde er einen Stein werfen.
Die Dunkelheit hatte den Himmel ganz in sich aufgesogen. Schneebeladene Wolken verdeckten den Mond. Rosa saß bei ihrer Quelle und betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser. Das kleine Rinnsal, das das Wasser beständig aufwühlte, konnte ihre Wunden nicht verbergen. Statt langer, schwarzer Haare trug sie Narben. Das wenige Fell, das ihr geblieben war, war stumpf. Sie war längst keine Partnerin für Tumaros mehr, nicht seine Bärenfrau. Sie war seine Gefangene, sie und die Kinder.
Ich bin lebendig begraben,
dachte Rosa.
Warum nur habe ich einem Drachen in die Augen geschaut? Es ist eine Nacht ohne Morgen, ein Tag ohne Sonne.
Sie seufzte tief, legte ihre Stirn auf die Knie, schloss die Augen und ließ schluchzend die Tränen laufen.
»Rosa!«, flüsterte eine helle Stimme ihren Namen. Sie träumte. Es kamen keine Lebewesen in die Nähe der Drachenhöhle.
»Rosa!«
Mit verweinten Augen schaute sie sich um. Da war niemand. Es kicherte, direkt neben ihr auf dem Felsen.
»Rosa, ich bin hier.«
»Hey, wer bist du? Dich habe ich doch schon mal gesehen?«
Ein kleines, grün gekleidetes Männchen mit Blumenhut und Flügeln flog Rosa direkt vor die Nase.
»Du hast mich doch wohl nicht vergessen? Ich habe dir schon mal geholfen«, sagte es mit gespielter Entrüstung.
»Du hast mir geholfen? Wann denn?«
Das kleine Wesen legte den Finger auf die Lippen. »Wenn du nicht willst, dass der Drache herauskommt, solltest du leiser sein.«
Erschrocken hielt Rosa sich den Mund zu.
»Ich bin Lobelius. Hast du mich wirklich vergessen?«
Er schwirrte Rosa um den Kopf. Diese duckte sich und bot ihre Hand als Landeplatz. Dann kam die Erinnerung.
»Nein, jetzt weiß ich es wieder. Du bist der Blumenelf. Aber wie kommst du hierher?«, flüsterte Rosa.
»Tarnzauber. Hab ich von Eschagunde gelernt. Das Drachenvieh kann mich nicht hören. Aber dich.«
Er schwirrte Rosa wieder vors Gesicht und tippte auf ihre Nasenspitze. »Der Zauber macht müde, muss jetzt gehen.« Lobelius machte Anstalten, wegzufliegen.
Rosa versuchte, ihn zu greifen. »Nein, bitte bleib.«
Mit einem Purzelbaum drehte er sich noch mal um. »Ich komme wieder. Nächste Vollmondnacht.«
»Nein, bitte!«
Weg war er.
»Mit wem redest du?« Tumaros stand neben ihr.
Rosas Herz raste. Sie fing an zu zittern. »Mit niemand, ich ... stelle mir nur manchmal vor ... Jakob wäre hier ... oder ... hast du jemanden gehört?«
Tumaros zog die Augenbrauen zusammen. »Wage es nicht, mich zu belügen.«
»Wie könnte ich. Ich würde dich niemals belügen.«
Knurrend ging er zurück in die Höhle. Rosa atmete tief ein, lehnte den Kopf an die Felswand und atmete aus. Sie schaute auf ihre schweißnassen Hände und wehrte sich mühsam gegen die aufkommenden Bilder von seinen Attacken. Wenn er sie wütend schnaubend mit seinem Feuerstrahl drangsalierte, bis sie keine Luft mehr zum Atmen hatte, die Schmerzen ihr die Sinne raubten und ihr verzweifeltes Schreien an den Höhlenwänden widerhallte. Wenn sie fast regungslos auf dem Boden lag, ließ er von ihr ab. Dann schleppte sie sich zur Quelle, kühlte sich, dankbar, dass die Bewegung im Wasser ihr Spiegelbild verbarg. »Selbst Schuld«, sagte sie dann zu sich. »Du kennst die Spielregeln und trotzdem reizt du ihn immer wieder. Er ist ein Drache und verlangt mit Recht Respekt.«
Aber der Gestank von verbranntem Bärenfell blieb lange in der Luft. Die Kinder kauerten in ihren Betten unter der Decke und hielten sich die Ohren zu. Sie wagten
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